Alles beginnt mit zwei ausgestreckten Armen. Die fallen mir an diesem Morgen– anders als sonst – jedoch nicht um den Hals, sondern stemmen sich mit aller Kraft gegen meinen Brustkorb. Und statt eines zuckersüßen „Tschüß Papa“ bekomme ich ein mürrisches „Nee Papa“ zu hören. „Lass mal, Maxi und Jonas sind schon da“, brummt Timm, zwölf Jahre, noch und radelt von der Haustür Richtung Straße. „Hey, hast du nicht was vergessen?“ rufe ich ihm hinterher. Timm macht kehrt, rollt zurück – mit finsterer Miene, verfolgt von belustigt-interessierten Blicken seiner Freunde. Genervt baut er sich in küss- und umarmungssicherem Abstand vor mir auf, Hände energisch in die Taille gestemmt. „Papa, das ist peinlich!“
Peinlich – ein Wort, das neuerdings Karriere macht bei unseren Kindern und locker die Häufigkeitswerte von „cool“ und „krass“ erreicht. Tags darauf verdreht Timms Schwester Kerstin die Augen an der Supermarktkasse. Beim Einpacken der Einkäufe berichtet ihre Mutter der Nachbarin von Kerstins Eins in Mathe, der Vier in Geschichte und vor allem darüber, dass Kerstins Zimmer mal wieder aussieht wie nach einem Erdbeben, weshalb es dringend aufgeräumt werden muss. „Von dir, Kerstin“, hört die 14-Jährige ihre Mutter predigen und dampft innerlich vor Wut. Die muss zu Hause sofort raus: „Ich geh nie wieder mit dir einkaufen, das war ja wohl voll mies, so peinlich sind ja nicht mal unsere Lehrer.“
Wir zucken die Achseln über unseren ach so empfindsamen Nachwuchs: „Stellt euch bloß nicht so an!“ Doch die beiden lassen nicht mehr alles mit sich machen, fordern so eine Art Mitbestimmungsrecht in Sachen Umgangsformen. Die Symptome: Auflehnung und Ablehnung. Erstens Auflehnung gegen vieles, was wir über die Kinder sagen, zweitens Ablehnung von allzu viel körperlicher Annäherung. Ein wichtiger Grund dafür: mit Beginn der Pubertät „sind Eltern nicht mehr Vorbilder, sondern mehr und mehr Gegenspieler“, sagt der Schweizer Kinderpsychologe Allan Guggenbühl. Denn Jugendliche machen sich tastend auf die Suche nach ihrem eigenen Lebensentwurf. Damit das gelingt, müssen sie sich erst mal von dem ihrer Eltern abgrenzen – auch indem sie ihr Verhalten peinlich finden. Zudem werden Freunde und Klassenkameraden immer wichtiger und bestimmen, was angesagt und cool ist.

Eltern bringen einen in Verlegenheit
Unsere Kinder beschließen anscheinend, uns ein paar Denkanstöße zu geben – etwa anlässlich des nächsten Besuchs bei Oma. Während sie den Rinderbraten schmurgelt, quetschen Kerstin und Timm sie nach meinen Missgeschicken und Missetaten von früher aus. Mit Erfolg. Prompt garniert meine Mutter das Sonntagsmenü mit Geschichten, die ich längst im Sagenschatz der Familie versunken glaubte: Wie ich angeblich als Bubi jeden Abend im Bett mit selbst erzeugtem Autogebrumm in meiner Fantasie zu einem gewissen Herrn Marke gefahren bin. Und wie ich noch als Sechsjähriger nicht davon abzubringen war, dass ich mit dem Bauch denke statt mit dem Kopf. Ach ja, und dass ich sämtliche Scheiben eines Gartenschuppens zerdeppert hatte, meinen Eltern aber weismachen wollte, der werde sowieso demnächst abgerissen.
Seit diesem Mittagessen ist uns klar: Wenn sie wollen, dann haben unsere Kinder allerlei gegen uns in der Hand – vor allem gemeinsam mit ihren Komplizen Oma und Opa. Zugegeben, die Wirkung dieser ollen Kamellen ist so wie bei einem Medikament, dessen Verfallsdatum lange abgelaufen ist: Es wirkt nicht mehr richtig, schmeckt aber unheimlich fade. Uns dämmert jetzt deutlicher, wie peinlich Eltern sein können.
Was Kinder noch alles peinlich finden
Sie wissen ganz genau, was sie peinlich finden und was Eltern ihrer Meinung nach unbedingt lassen sollten. Nicht in jedem Fall jedoch sollten Eltern den folgenden „Anweisungen“ ihres Nachwuchses folgen...
-
Wenn Freunde da sind...„Papa, bitte erzähl keine Witze (kennen wir schon alle) und spar dir deine oberschlauen Sprüche!“
„Fragt nicht, was unsere Freunde in der letzten Mathearbeit hatten, fragt nicht, wohin sie in Urlaub fahren, fragt nicht, welche Musik sie mögen, fragt am besten gar nichts!“
„Wenn Freunde am Wochenende übernachten, sagt uns nicht, wann wir ins Bett gehen sollen!“ -
Kleidung...„Schreibt mir nicht vor, was ich anziehen soll, schon gar nicht, wenn Freunde dabei sind!“
„Sprich nicht mit der Verkäuferin über meine Figur oder meine Klamotten, wenn ich gerade was anprobiere!“
„Fummel nicht vor anderen an mir herum, zum Beispiel in meinen Haaren oder weil du meinst, ich sollte das Hemd in der Hose tragen!“ -
Fernsehen, Computer, Smartphone...„Spart euch Lästereien, wenn ich meine Lieblingsserien gucke!“
„Nein, setzt euch nicht dazu, wenn ich im Netz surfe!“
„Tippt auf dem Smartphone die Zahlen bloß mit dem Daumen ein – das Ein-Finger-Suchsystem mit dem Zeigefinger sieht ganz schlimm aus...!“ -
Schule...„Wenn ich was vergessen habe, bitte tragt es mir nicht in die Schulstunde hinterher!“
„Erzählt mir nicht dauernd, wie gut ihr in der Schule wart!“
„Fragt mich nicht beim Mittagessen, was wir heute in der Schule gemacht haben!“ -
Auf Reisen...„Fragt im Restaurant nie mehr, ob es für mich einen Kinderteller gibt!“
„Fasst mich nicht an der Hand, wenn wir über die Straße gehen!“
„Trällert nicht laut mit, wenn im Autoradio Beatles oder Bee Gees laufen!“
Trotz prominentem Anschauungsunterricht – leider werden wir selber wieder rückfällig. Findet jedenfalls Timm: „Nichts habt ihr kapiert – gar nichts!“ Nur weil wir sein Zimmer betreten, als seine Freundin das erste Mal da ist? Und sie nicht bloß fragen, was es zu trinken sein darf, sondern auch, ob sie Geschwister und Hobbies hat und wie sie die letzte Unterstufenparty fand. Timm stinksauer: „Schickt ihr doch gleich einen Fragebogen. Ihr seid soooo neugierig. Mega-peinlich!“ Spricht´s und knallt seine Zimmertür zu.
Nein, so wollen wir ja gar nicht sein. Doch was tun, wenn wir nicht mit Kerstin und Timm auf einer Wellenlänge sind, manches, was ihnen peinlich ist, eben gar nicht so empfinden? Wir vereinbaren mit unseren Kindern einen „Peinlichkeits-Radar“ mit integrierter Nachhilfefunktion. Sie sollen uns sagen, was alles peinlich ist – am Beispiel von anderen Eltern. Und – wenn´s wirklich noch mal vorkommt – auch bei uns.
Kinder geben Nachhilfe
Am nächsten Tag Lektion 1: In der U-Bahn knufft Kerstin mich in die Seite und deutet auf einen Jungen mit knallrotem Kopf. Neben ihm dröhnt sein Vater: „Ach Rübchen, wir beide mal ganz allein zum Bundesligaspiel ins Stadion, was Rübchen, ist doch klasse, Rübchen – oder?“ Kerstin klärt mich auf, dass „Rübchen“ eigentlich Ruben heißt, in ihre Parallelklasse geht und sich gerade wahnsinnig schämt, weil sein Vater ihn immer noch mit Kleinkinderspitznamen ruft. Aha, kapiert. Dann nenne ich Kerstins Kosenamen öffentlich wohl besser nicht. Und hier schon gar nicht. Dabei ist er wirklich süß...
Lektion 2 kommt von Timm nach einem Besuch bei Kevin aus seiner Schule: „Immer wenn wir da sind, dreht Kevins Papa die Boxen bis hinten hin auf, tänzelt mit Sonnenbrille im Haar zu Rap von Eminem durch die Wohnung – echt voll peinlich. Dann hockt er sich dazu, wenn Kevin und ich Musikvideos aus dem Netz saugen und sagt dauernd, wie ‚fett’ er die findet. Papa, ich glaub’, der fühlt sich damit wahnsinnig jung, merkt aber gar nicht, dass Eminem megaout ist, kein Mensch mehr ‚fett’ sagt und dass er furchtbar nervt.“
Ein unmerkliches Lächeln huscht über mein Gesicht, weil ich Kevins Vater zutiefst dankbar bin, hat er mir doch eine Gewissheit verschafft: Es gibt Eltern, die sich in puncto Peinlichkeiten noch tollpatschiger anstellen. Denn so viel haben wir immerhin schon begriffen: auf dem Weg zur eigenen Identität brauchen Kinder auf gar keinen Fall berufsjugendliche Eltern, die sich anbiedern und den Kumpel spielen. Aber warum schlüpfen Eltern wie die von Kevin trotzdem in diese Rolle? Vielleicht, weil sie beim Heranreifen ihrer Kinder merken, dass sie selbst alt werden.

Zurück zu Timm und Kerstin. Sie dehnen ihre selbst definierten Peinlichkeitszonen mehr und mehr aus. Neuerdings schämen sie sich nämlich nicht mehr nur dafür, dass wir versuchen, mit Worten und Taten einigermaßen zivilisierte Wesen aus ihnen zu machen und ihnen wenigstens gelegentlich noch ein Küsschen auf die Wange hauchen möchten. Nein, inzwischen sind wir als Person peinlich und bekommen das frontal mitgeteilt. „Papa, deine Frisur, die spießige Hochwasserjeans und die Socken – das geht gar nicht!“, sagen Kerstin und Timm und fragen mich, ob ich die Sendung kenne, wo alte Autos aufgemotzt werden. „Pimp my car“, antworte ich stolz und bereue es im nächsten Moment: „Genau das machen wir mit Mama und dir auch“, feixen sie. „Wir ziehen einen Tag mit euch durch die Stadt und kleiden euch mal richtig cool ein. Und wie wir diese Aktion nennen, wissen wir auch schon: Pimp my parents“ – Motz meine Eltern auf.