In diesem Jahr trifft es bisher Stockach als Schwerpunkt tödlicher Motorrad-Unfälle im Landkreis Konstanz, und in beiden Fällen trägt ein Autofahrer die Hauptschuld. Anfang Juni ist es ein 22-jähriger Biker auf der L194 bei Winterspüren im Hegau, der sterben muss, weil ihn ein überholender Autofahrer übersieht. Kurz darauf kommt eine 60-jährige Motorradfahrerin bei Selgetsweiler ums Leben, weil eine 74-jährige Autofahrerin nicht achtgibtund ihr die Vorfahrt nimmt. Die Bikerin stirbt noch an der Unfallstelle.
Auch im Schwarzwald-Baar-Kreis starben 2018 schon zwei Biker, 2017 dagegen keiner, ebenso gab es im Landkreis Lörrach schon zwei Tote und deutlich mehr Schwerverletzte als 2017. Gibt es ein Muster, aus dem man Rückschlüsse ziehen könnte, um die Unfallzahlen zu senken? Experten sagen: Jeder Unfall muss für sich allein betrachtet werden. Auch Markus Sauter, Pressesprecher des Polizeipräsidiums Konstanz, muss jene enttäuschen, die aus den Zahlen tiefe Schlüsse ziehen wollen: „Man kann aus den Statistiken kein Muster herauslesen, wo Motorradfahrer besonders gefährdet wären“, stellt Sauter fest.
Die Polizei klärt Biker zwar immer wieder auf, predigt gegen Speed und wirbt für ABS und gelbe Warnwesten. Dennoch bewegt sich die Zahl der Toten und Schwerverletzten nicht nach unten. Was könnte getan werden, um die Zahl schwerer Unfälle zu senken? Das haben wir Franz Fabian gefragt, der das Fahrtrainingscenter in Steißlingen im Hegau leitet:
Herr Fabian, bei einer Umfrage antworteten rund 90 Prozent der Motorradfahrer, sie nutzten ihr Bike einfach so zum Spaß, um damit herumzufahren. Nutzung für berufliche Zwecke steht ganz hinten. Hat sich das Motorradfahren in den letzten 30 Jahren verändert?
Es hat sich auf jeden Fall in Richtung Freizeit, Spaß und Hobby verändert. Das zeigt auch meine berufliche Erfahrung. Als ich 1994 am Nürburgring das erste Fahrtrainingszentrum eröffnet habe, gab es noch – auch durch die Nähe zum Ruhrgebiet – für Motorradfahrer viele Kurse, die von den Berufsgenossenschaften gefördert wurden. Die Teilnehmer waren meistens Bergmänner, die zwei Fahrzeuge besaßen – und eines davon war das Motorrad oder ein Roller. Der wachsende Wohlstand hat das verändert. Irgendwann war das Motorrad weg und das zweite Auto für den Weg zur Arbeit da.
Und junge Fahrer werden weniger?
Ja. Ein Vergleich: Früher haben viele männliche Fahrschüler den Motorradführerschein nebenbei mitgenommen. Das kostete so 300 bis 500 Mark obendrauf, war damit im Vergleich zu heute billig, und man sagte sich: Was ich hab, das hab ich. Diese Klientel ist vor allem in den Großstädten eingebrochen, wo viele 18- bis 19-Jährige gar keinen Führerschein machen. Die jungen Leute wollen einfach nicht im Stau stehen. Daher wird ein Motorradführerschein aufgeschoben, auch weil er heute locker mal 1000 Euro kostet.
Das heißt, der Einsteiger ist heute im Schnitt deutlich älter. Wirkt sich das auch auf das Fahrvermögen aus?
Ja. Stellen Sie sich vor, wie schnell es geht, einem Fünfjährigen das Radfahren beizubringen. Später dauert es dann eben länger, Balance und Gleichgewichtsgefühl wird mit dem Alter immer schlechter. Das gilt natürlich auch fürs Motorrad. Da tun sich Leute ab 40 nicht mehr so leicht wie die Jungen. Auf der anderen Seite sind die Fahrer zwischen 18 und 25 Jahren überproportional oft in schwere oder tödliche Unfälle verwickelt.
Das hat man an den beiden toten Motorradfahrern auf dem Innenstadtring in Villingen kürzlich gesehen. Was könnte man verbessern, um diesen Unfällen besser vorzubeugen?
Es so machen wie in Österreich. Während in Deutschland beim Führerschein Klasse A zunächst nur die Motorleistung gedrosselt ist, geht man in Österreich die Sache zusätzlich pädagogisch an – und das gilt für Fahrer jeglichen Alters. Jeder, der den Pkw- und den Motorradführerschein bestanden hat, muss innerhalb der ersten 12 Monate zu drei Weiterbildungen antreten. Das ist übrigens auch in der Schweiz so. Grund: Zwischen dem dritten und dem neunten Monat nach Erhalt des Deckels liegt das Epizentrum der schweren und auch tödlichen Unfälle.

Wieso erst nach dem dritten Monat?
Erinnern Sie sich mal an Ihre ersten Ausfahrten allein ohne Fahrlehrer, der einem etwas sagt und helfend zur Seite steht. Da fuhren Sie langsam, denn sonst geht alles zu schnell. Mit wachsender Fahrpraxis ändert sich das. Man fährt automatisch schneller und schwimmt im Verkehr mit, lässt sich aber auch von anderen quasi hetzen. Genau das kann gefährlich werden, wenn eine brenzlige Situation eintritt, die den Fahrer mit seinem jetzigen Leistungsstand überfordert.
Und durch die Weiterbildungen senken Sie die Unfallzahlen?
Ja, und zwar signifikant bei Pkw- und Motorradneulingen: 77 Prozent weniger Tote. 38 Prozent weniger Schwerverletzte. 32 Prozent weniger Unfälle. Wir nehmen die Fahrer ganz bewusst noch einmal an die Hand und vermitteln ihm Wissen, das er gerade jetzt braucht. Beispiel: Wenn man einem Fahrschüler im Frühjahr erzählt, dass er im Herbst mit rutschigem Laub rechnen muss, dann nickt er brav und vergisst das meist. Wenn er aber im Herbst zur Fortbildung zu uns kommt, dann können wir genau da einhaken und diese Fahrsituation nachstellen. Dann können wir zeigen, wie man die Geschwindigkeit an diese Situation anpasst. Es ist ja oft nicht das überhöhte Tempo, das zum Unfall führt, sondern das nicht angepasste Tempo. Und das kann heißen: Ich darf zwar 80 km/h fahren, aber selbst das ist momentan zu schnell.
Wie alt ist denn Ihre Klientel hier in Steißlingen?
Auf jeden Fall 30 plus. Und immer mehr kommen, weil Sie einen Gutschein geschenkt bekommen haben. Das heißt, der Teilnehmer hat die Entscheidung für ein Training gar nicht selbst getroffen, sondern er hat meist eine Frau oder eine Freundin, die sich fürchtet, wenn der Mann mit seinen Kumpels unterwegs ist. So ist das Leben! Aber es verunglücken ja nicht nur Männer. Bei den Unfallzahlen hat sich die Emanzipation voll durchgesetzt – auch wenn die absoluten Zahlen gering sind, weil es viel weniger Motorradfahrerinnen gibt.
Wissen Ihre Kunden, worauf man auf der Straße am meisten gefasst sein muss, um einem Unfall zu entgehen?
Die Vorstellungen sind diffus. Fragt man nach, heißt es, man fürchte am meisten die Autotür, die plötzlich aufgeht, wenn man eine Straße entlangfährt. Das macht aber nur 1,6 Prozent aller Unfälle aus! Aber: Der Motorradfahrer achtet auf diese statistisch sehr kleine Gefahr – und vergisst, die Gefahr, die viel häufiger auftritt – nämlich dass dich der entgegenkommende links abbiegende Pkw einfach übersieht.
Also auf die falsche Gefahr gepolt . . .
Ja! Es wird eine eher exotische Situation antizipiert, und die viel reellere Gefahr nicht, obwohl man die genauso leicht vorhersehen könnte, wenn man nur darauf achten würde – etwa auf den Fahrer oder den Blinker. Das trainieren wir in den Kursen. Und das bringt dann wirklich etwas.
Und wenn man die Motorleistungen stärker beschränken würde?
Ob das wirklich Sinn hat, ist umstritten. Auch die Debatte auf EU-Ebene hat das gezeigt. Erstens haben die Hersteller viel in die Sicherheitstechnik investiert, und zweitens kann man sich auch mit 40 PS den Schädel einfahren.

Doch bei aller Technik wie etwa ABS – was nützt das, wenn ich nicht damit umgehen kann?
Ja, das ist ein wichtiger Punkt. Ein Kunde kauft sein Bike mit 140 PS und ABS vom Händler, und das war’s dann. Was ABS an der Bremstechnik ändert, weiß der Fahrer oft nicht, und die Situation übt er auch nicht. Wie viel niedriger könnten die Unfallzahlen sein, wenn alle, die ABS gekauft haben, auch wüssten, wie man damit umgeht. Und es, weil trainiert, auch richtig einsetzen können. Das Gleiche gilt für das ASR, die Traktionskontrolle, die die Motorkraft dosiert. Man muss die Wirkung der Technik erleben! Denn die Statistik sagt: Auf eine Situation, die mit einem tödlichen Unfall endet, kommen 24 000 kritische Situationen im Verkehr.
Was ist ein Verhalten, das sich der Motorradfahrer auf jeden Fall angewöhnen sollte, damit ein Unfall vermieden wird?
Es gibt viele Situationen, aber ich möchte eine beispielhaft erklären. Wichtig ist: Wenn man hinter einem Pkw fährt, sollte man sich sichtbar machen. Das heißt, wenn ich den Fahrer im Seitenspiegel und/oder im Innenspiegel sehe, dann sieht er höchstwahrscheinlich auch mich. Und dann: Abstand halten. Denn im Grund ist der Biker eine arme Sau. Warum? Jeder neue Kleinwagen hat heute einen Notbremsassistenten. Der Motorradfahrer aber nicht. Der Pkw-Fahrer hat dadurch einen Zeitvorteil von rund 3/10 Sekunden. Das sind bei 50 km/h etwa 4 Meter! Daher mein Rat: Immer zwei Finger auf der Kupplung und vor allem auf dem Bremshebel lassen. Und bei Gruppenfahrten gilt: Die Langsamsten ganz vorne. Und ganz generell: Die Geschwindigkeit muss nicht nur der Situation angepasst sein, sondern auch an das Fahrkönnen. Das vergessen viele immer wieder.
Fragen: Alexander Michel
Zur Person
Franz Fabian, 52, stammt aus Wien und ist seit mehr als 30 Jahren mit den Themen Verkehrssicherheit, Fahrsicherheit, Fahrtechnik und Fahrspaß verbunden. 1992 baute Fabian das Mercedes Benz Fahrtraining in Deutschland auf, 1994 das erste Fahrzentrum mit moderner Technik am Nürburgring, das er zehn Jahre lang führte. 1996 leitete Fabian den Aufbau des neuartigen ADAC Zentrums in Augsburg. Ähnliche Aufgaben übernahm Fabian in Österreich, der Schweiz, Italien (Südtirol) und Luxemburg. Seit 2012 begleitet er als selbstständiger Experte die Arbeit des Fahrdynamischen Zentrums „Fahren Erleben Bodensee“ in Steißlingen. Im Netz: http://www.fahrenerleben.de (mic)
Zu gewinnen!
Wer ist der Bergkönig 2018
Die Zahl der getöteten Motorradfahrer steigt
- Im Verkehr getötet: Die Zahl der Verkehrstoten auf deutschen Straßen ist im vergangenen Jahr auf den niedrigsten Stand seit mehr als 60 Jahren gesunken. Sie fiel im Vergleich zum Vorjahr um 0,8 Prozent auf 3180, wie das Statistische Bundesamt kürzlich mitteilte. Das waren 26 Verkehrstote weniger als im Jahr 2016. Zwischen 2010 und 2017 reduzierte sich die Zahl der Verkehrstoten damit um 13 Prozent.
- Getötete Zweiradfahrer: Allerdings kamen 2017 mehr Menschen auf Motorrädern und -rollern ums Leben. Hier gab es im vergangenen Jahr 689 Tote. Das sind 46 Todesopfer mehr als 2016. Das entspricht einem Anstieg von 8,6 Prozent. In Baden-Württemberg verunglückten 104 Motorrad-/Rollerfahrer tödlich. Berücksichtigt man, dass die Saison von März bis Oktober dauert, sterben monatlich 13 Biker auf den Straßen des Südwestens – vor allem an den Wochenenden.
- Südbaden bei Unglücken vorn: Betrachtet man die Zahl der getöteten und schwerverletzten Biker je 10 000 Einwohner, dann liegt Südbaden teils deutlich über dem Landesdurchschnitt (Wert 8,7). Auf Platz 4 hinter Baden-Baden, Main-Tauber-Kreis und Schwäbisch Hall liegt der Landkreis Waldshut (12,7), da im Südschwarzwald viele Biker unterwegs sind. Der Bodenseekreis kommt auf 12,2; Kreis Ravensburg: 12,0; Kreis Sigmaringen: 11,1; Breisgau-Hochschwarzwald: 10,5; Kreis Konstanz: 9,8.
- Unfallverursacher: Bei 29 Prozent der verunglückten und 27 Prozent der getöteten Motor- und Rollerfahrer liegt ein Alleinunfall vor, das heißt, es waren keine anderen Verkehrsteilnehmer beteiligt. Laut Verkehrsministerium waren in fast zwei Drittel der tödlichen Unfälle Motorradfahrer die Hauptverursacher. Betrachtet man deutschlandweit die fast 23 000 Zusammenstöße von Motorrad und Pkw, dann waren mehr als 93 Prozent die Biker das Unfallopfer. Aber 68,6 Prozent dieser Unfälle wurden laut Statistischem Bundesamt allerdings von Pkw-Fahrern verursacht. (mic)
Gefahrensituation:
Drei Beispiele
Auf jeden tödlichen Verkehrsunfall kommen statistisch 24 000 Gefahrensituationen. SÜDKURIER-Redakteur Alexander Michel kann es voll bestätigen. Allein in den vergangenen vier Wochen wurde es für ihn auf dem Motorrad von oder zur Arbeit in Konstanz drei Mal brenzlig. Hier sein Bericht:
- Rotwild auf dem Bodanrück, L220 zwischen Dettingen und Langenrain: Nach acht Stunden Redaktionsstress endlich freie Piste und mit offenem Gashahn in den Feierabend. Die Strecke ist voll einsehbar, kein Gegenverkehr, kein Vordermann, alles scheinbar idiotensicher. Plötzlich springen 60 Meter voraus zwei muntere Rehe von rechts aus der tiefer gelegenen Böschung auf die Fahrbahn hoch. Geht danke ABS-Helferlein knapp gut. Das hintere Reh kreuzt ein paar Meter vor meinem Vorderrad die Fahrbahn. Mein Fehler: Übermut.
- Greifvogel auf dem Bodanrück zwischen Tierpark Allensbach und Kaltbrunn: morgendlicher Kurvenspaß am Waldrand, null Verkehr. Den gut getarnten Bussard, der auf einem Leitpfosten links auf Beute wartet, sehe ich nicht. Mein Lärm beim Vorbeifahren schreckt den Bussard auf, ich sehe ein Flügelpaar vor mir schlagen und ducke mich unter dem Vogel weg. Mein Fehler: Mit so einer Begegnung rechnet man einfach nicht.
- Riesen-Kieslaster im Konstanzer Gewerbegebiet, Byk-Gulden-Straße: Ich fahre stadteinwärts, und ein Lkw steht in der Ausfahrt des Kieswerks. Weil er links abbiegen will, hat der Fahrer den Sattelschlepper schon dahin ausgerichtet, den Mann am Steuer sehe ich daher gar nicht, er mich auch nicht. Also Vorsicht – auf Ausweichen gefasst machen. Besser so. Denn der Fahrer gibt plötzlich Gas, als ich in Höhe des Führerhauses bin. Da der Sattelzug schwer und langsam ist, passiert nichts. Dennoch: In so einem Fall wäre es besser gewesen, anzuhalten. (mic)