Herr Maier, was hat Komasaufen mit Erwachsenwerden zu tun?

Alkohol ist eine völlig anerkannte Droge unter Erwachsenen. Junge Menschen denken: Wenn ich das mache, was Erwachsene machen, und dann noch eins draufsetze, dann bin ich einer von ihnen. Ähnlich ist das mit Autorennen oder Tattoos. Alles sind kleine Mutproben mit Dingen aus der Erwachsenenwelt. Leider sind es oft missglückte und auch gefährliche Versuche, in die Welt der Erwachsenen aufgenommen zu werden. Von ihnen als gleichwertig anerkannt zu werden.

Sie sind der Meinung, dass es bessere Wege geben muss, und haben sich viel mit Initiationsritualen beschäftigt, wie man sie von indigenen Völkern kennt.

Ja. Dort werden Jugendliche mehrere Tage allein in die Wildnis geschickt und kommen als völlig veränderte Persönlichkeiten zurück. Und für ihren Mut werden sie dann auch gefeiert und bekommen die Anerkennung der Erwachsenen. Das hat mich nachhaltig beeindruckt, weil ich bei meinen Schülern gemerkt habe: Denen fehlt so ein Initiationsritual als Symbol für den Übergang zwischen Jugendlichem und Erwachsenen.

Peter Maier hat lange an einem Gymnasium unterrichtet.
Peter Maier hat lange an einem Gymnasium unterrichtet. | Bild: Peter Maier

Man feiert den 18. Geburtstag und ist erwachsen. So einfach ist das also nicht?

Mit 18 ist man rechtlich erwachsen. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass die Psyche erwachsen ist. Dass man Selbstverantwortung übernehmen kann. Oder gar selbstständig ist, sein eigenes Geld verdient, in einer eigenen Wohnung lebt. So gesehen werden viele heute erst mit 30 Jahren erwachsen.

Ist das schlimm?

Früher waren die meisten mit 17 Jahren mit ihrer Ausbildung fertig, haben ihr eigenes Geld verdient und ein selbstbestimmtes Leben geführt. Die Persönlichkeit konnte reifen, dann wurde irgendwann geheiratet und eine Familie gegründet. Heute gehen viele Menschen unreif in die Ehe, weil sie beispielsweise während des Studiums lange zu Hause wohnen. Das kann dazu führen, dass Beziehungen scheitern. Oder man den Anforderungen im Beruf nicht gerecht wird, weil man da plötzlich auch von heute auf morgen erwachsen sein und Verantwortung übernehmen soll.

Sie haben viele Jahre lang Schüler für 24 Stunden in den Wald geschickt. Ohne Zelt. Ohne Handy. Ohne Essen. Um für sie ein Übergangsritual ähnlich wie bei den indigenen Völkern zu schaffen. Funktioniert das?

Ja. Sich allein ohne Eltern und Freunde und ohne Kontaktmöglichkeit im Wald aufhalten zu müssen über Nacht, das ist eine echte Mutprobe. Die Schüler sind auf Wildschweine getroffen, haben Gewitter erlebt. Vor allem aber auch Langeweile. Nur so beschäftigt man sich aber auch mal mit sich selbst. Stellt sich die wichtigen Fragen: Wer bin ich eigentlich? Was habe ich noch vor im Leben? Für die Persönlichkeitsentwicklung können auf diesen sogenannten „WalkAways“ wichtige Impulse gesetzt werden.

Auch Auslandsaufenthalte sind solche „WalkAways“, oder?

Ja, vor allem, wenn man allein loszieht und eine Reise macht, in einem anderen Land arbeitet oder zur Schule geht. Es gibt auch Lehrer, die mit ihren Schülern zu Fuß die Alpen überqueren. Oder Paten, die ihre Patenkinder auf eine Bergtour mitnehmen. All so etwas eignet sich gut als Übergangsritual. Aber das sind eben individuelle Dinge, die längst nicht alle Jugendlichen erreichen.

Auch ein Auslandsaufenthalt ist ein geeignetes Übergangsritual ins Erwachsenenleben.
Auch ein Auslandsaufenthalt ist ein geeignetes Übergangsritual ins Erwachsenenleben. | Bild: obs/Carl Duisberg Centren

Was ist mit Abschlussfesten in der Schule? Hier wird doch zumindest das Ende der Schulzeit für alle gebührend gewürdigt, oder?

Das sind wichtige Ansätze, klar. Vor allem, weil die Eltern dabei sind und hoffentlich ihre Anerkennung ausdrücken. Denn das ist ja bei diesem ganzen Übergang das Allerwichtigste: dass das Umfeld sieht, welche Entwicklung der junge Mensch gemacht hat. Wer danach auszieht, geht einen großen, mutigen Schritt in die Selbstständigkeit. Viele aber bleiben aus unterschiedlichsten Gründen im Hotel Mama.

Und dort kann man nicht erwachsen werden?

Wenn Eltern dort nicht mehr Freiräume ermöglichen und mehr Eigenverantwortung einfordern, wird das Erwachsenwerden auf jeden Fall hinausgezögert. Nur wenn man die Kindheit begräbt, kann sich eine erwachsene Persönlichkeit entwickeln.

Sind also auch die Eltern mit schuld daran, dass Jugendliche heute später erwachsen werden? Weil sie die Kinder überbehüten und möglichst lange bei sich halten wollen?

Diese vielbeschriebenen Helikopter-Eltern gibt es sicherlich. Ich hatte Schüler, die bei den „WalkAways“ mitmachen wollten, denen die Eltern das dann aber nicht erlaubt haben. Eine Mutter hat mich gefragt, ob es um das Waldstück, in dem die Jugendlichen nachts unterwegs waren, einen hohen Zaun gebe. Eltern haben immer Angst um ihre Kinder, das ist etwas ganz Natürliches. Trotzdem müssen sie Loslassen lernen. Auch dazu sind die „WalkAways“ gut: Eltern sehen, dass die Kinder solche Mutproben gut meistern und dass man sie deshalb ziehen lassen kann.

Nun gibt es eine Generation von jungen Leuten, die während der Corona-Pandemie keine Abschlussfeste hatte, nicht ins Ausland gehen konnte. Wie sollen sie erwachsen werden?

Sie sollten diese Dinge unbedingt nachholen. Ins Ausland gehen. Von zu Hause ausziehen. Die Eltern könnten auch jetzt noch ein Fest organisieren, um den Schulabschluss mit Familie und Freunden nachzufeiern.

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Was passiert, wenn jungen Leuten diese Übergangsrituale ins Erwachsenenleben fehlen?

Dann suchen sie sich Ersatzrituale, auch noch, wenn sie älter sind. Computerspiele bieten willkommene Parallelwelten, in denen man Held spielen kann. Oder nehmen sie das „Dschungelcamp“. Hier machen erwachsene Menschen doch nichts anderes als Mutproben – und andere Erwachsene, die so etwas selbst eben nicht gemacht haben, sitzen als Voyeure zu Hause vor dem Fernseher und schauen dabei zu. Das bringt natürlich nichts für das eigene Erwachsenwerden. Oft geschieht die Initiation jedoch auch durch das Leben selbst, wenn Übergangsrituale fehlen.

Was meinen Sie damit, dass das Leben selbst den Übergang schafft?

Wenn es beispielsweise einen Todesfall in der Familie oder im Freundeskreis gibt. Einen schweren Unfall. Oder eine Trennung. Das sind Erlebnisse, die den Menschen dann die nötige Seelentiefe verschaffen. Wer jedoch ein bewusstes Initiationsritual früher im Leben erlebt hat, begegnet einem Schicksalsschlag meist mit gereifterer Persönlichkeit. Und kann ihn dadurch vielleicht besser verarbeiten.