Kinder blicken mit schärferen Augen auf die Welt. Als er klein war, erzählt der Fotograf Janko in Kai Wielands neuem Roman „Zeit der Wildschweine„ (Klett-Cotta Verlag), da habe er an eine Art Lichttransfer geglaubt. Drücke irgendjemand auf den Auslöser einer Kamera, so verschwinde ein bestimmter Anteil des Lichts im Apparat „und die Welt wird ein wenig düsterer“. Ein naiver Gedanke? Keineswegs.
Längst ausgeleuchtet
Die Vorstellung, dass immer mehr Licht aus der Welt in unsere Fotoalben und heute den digitalen Raum entschwindet, ist weniger abwegig, als es den Anschein hat. Tatsächlich bleibt ja die Erschließung unserer Wirklichkeit bis in den hintersten Winkel nicht ohne Folgen: Es gibt schlicht keine Orte mehr, die man als junger Mensch überhaupt noch entdecken könnte, und damit auch kaum mehr Optionen für ein selbstbestimmtes Leben fernab der wohlbekannten, längst ausgeleuchteten Strukturen.
Man muss schon wie Jankos Freund Leon als Reisejournalist gezielt nach solchen „Niemandsorten“ fahnden, um neue Alternativen zu finden. Für seinen Verlag macht er sich auf in die Normandie: Dünkirchen. Die Schlacht im Sommer 1940 an der Küste dieser Stadt haben aus ihr einen Ort von historischer Bedeutung gemacht. Anders als in der heimatlich schwäbischen Provinz kann man hier noch wahrhaft existenziellen Fragen und Herausforderungen begegnen – so lautet die Hoffnung.

Doch erstens erweist sich die Idee als Fehler, ausgerechnet Janko als Gefährten für die Bildberichterstattung mitzunehmen. Statt brav Bilder zu liefern, die Leons eigene Reiseeindrücke illustrieren, recherchiert der bald auf eigene Faust. Und zweitens entpuppt sich der Hauch der Geschichte früh als bloße Kulisse eines Hollywoodfilms: Starregisseur Christopher Nolan dreht hier gerade seinen Blockbuster „Dunkirk“. Sogar der vermeintliche „Niemandsort“, das verlassene Küstendorf Nortzeele ist mehr Schein als Sein, eher skurrile Erfindung einer einheimischen Künstlerin denn wirklich Schauplatz historisch bedeutsamer Ereignisse.
Einfach zuhause bleiben
Und dann gibt es ja noch die bequemere Variante zum so schmählich verpassten Abenteuer – einfach zuhause bleiben. Für Leon ist dieser Verlockung besonders schwer zu widerstehen, bietet im doch sein alter Vater einen reizvollen Tausch an: Wohnung gegen Einfamilienhaus. „Betrachte es als Anzahlung auf dein Erbe“, sagt er.

So findet sich Leon bald dort wieder, wo er hergekommen ist, zwischen Wohn- und Kinderzimmer, an jeder Ecke, jedem Türgriff hängen Erinnerungen. Der Nachbar wirft ihm vor, kein ganzer Kerl zu sein, weil er sich ins gemachte Nest des Vaters setzt, statt seinen eigenen Weg zu suchen. Wo aber sollte dieser Weg zu finden sein, in einer Welt, die alle ihre Geheimnisse längst enthüllt, alle verborgenen Orte bereits entdeckt hat?
Kein Lebenstraum
Heimat mag zwar Sicherheit bieten, Glück deshalb aber noch lange nicht. Unter der Decke des Bekannten und Gewohnten schlummern Traumata: Die Mutter beging einst Suizid, die Schwester hat sich in eine eher wacklige Ehe geflüchtet. Jetzt verbringt sie ihr Leben damit, von morgens bis abends ihr Kind bei dessen tapsigen Schritten ins Leben zu begleiten. Ein Lebenstraum sieht anders aus.
Wenn man die Jahre, in der junge Erwachsene ihre Bestimmung suchen, als Phase der Dämmerung versteht, so sind die Gelegenheiten wie vorbeihuschende Wildtiere, die der geschickte Jäger in dieser Zeit mit Geduld und Präzision erlegt. Die alten Griechen hatten dafür die Gottheit Kairos erschaffen, einen nackten Jüngling mit – bis auf eine Locke – kahlgeschorenem Kopf. Eilt er vorbei, erwischen nur wenigsten sein spärliches Haar: Die meisten gleiten beim Zugriff am glatten Körper ab.
Junge ohne Jagdglück
Auch Leon macht sich auf die Jagd, begleitet den erfahrenen Waidmann aus der Nachbarschaft in der Dämmerung zum Hochsitz. Doch während der Alte mit sicherem Gespür für den richtigen Moment sein Gewehr anlegt, kämpft der Junge mit seinen steifgefrorenen Fingern. Nicht einmal auf die klassische Art ist ihm das Jagdglück beschieden.
„Zeit der Wildschweine„ ist eine durchaus interessant komponierte Reflexion über das Erwachsenwerden in einer von allen Illusionen bereinigten Zeit. Trotz differenzierter Figurenzeichnungen und überzeugender Bilder will es Wieland allerdings nicht recht gelingen, die Bremse zu lösen. Über längere Passagen tritt die Handlung auf der Stelle, man wünschte sich dann, im Scheitern des Helden würden aus der vorherrschenden Melancholie auch einmal stärkere Momente der Ironie hervorblitzen.
„Es ist gefährlich, bei Dämmerung in den Wald zu gehen“, sagt Leon einmal. So will es einer jungen Generation scheinen, die in der Welt kaum noch Chancen findet – aber umso mehr Möglichkeiten, zu scheitern.