„Ich rate Patienten tatsächlich oft, ‚Abwarten und Tee trinken‘. Manche gucken mich dann an, als sei ich bekloppt“, berichtet ein Arzt. Seine Aussage stammt aus einer Umfrage der Bertelsmann-Stiftung für eine Studie zum Thema Überversorgung. Ein Einzelfall? Ganz und gar nicht. Wer mit körperlichen Beschwerden in eine Praxis kommt, erwartet Taten.

Und viele Ärzte tun ihren Patienten den Gefallen, verordnen Pillen, Therapien und operative Eingriffe – nicht selten völlig ohne Not. „Es ist nicht so, dass alles, was medizinisch getan wird, auch den Patienten dient“, sagt Thomas Kühlein, Direktor des Allgemeinmedizinischen Instituts am Uniklinikum Erlangen. Das Institut beschäftigt sich unter anderem mit der wissenschaftlichen Untersuchung einer guten Patientenversorgung. Ein Schwerpunkt dabei ist die Überversorgung.

„Vieles ist ganz klar sinnlos und wird trotzdem gemacht“, sagt der 62-Jährige im Gespräch mit dem SÜDKURIER. Denn oft sei es genau das, was den Praxen Einnahmen beschert. Als Folge davon sieht Kühlein unnötig volle Wartezimmer, zu wenig Termine und überflüssigen Zeitdruck für Ärzte. Aus seiner Sicht trägt die Verwirtschaftung der Medizin zur Überversorgung bei: „Selbst falsches Handeln vergüten die Kassen, nicht aber korrektes Unterlassen.“

Falsche Anreize

Das bestätigt der Patientenbeauftragte der Bundesregierung, Stefan Schwartze: „Wirtschaftliche Anreize führen zur Überversorgung.“ Wer als Arzt ein teures Gerät anschafft, setzt es dann auch möglichst oft ein – wie ein Magnetresonanztomograph (MRT) beim Chirurgen, nennt Kühlein ein Beispiel. Wo einfache Alternativen bereits helfen würden, greift mancher gleich zum äußersten Mittel: Erschreckend häufig operieren Ärzte die Schilddrüse, implantieren Herzkatheter oder setzen schon bei unspezifischen Rückenschmerzen eine bildgebende Diagnostik ein.

Aber auch Gelenkprothesen verordnen Mediziner hierzulande extrem oft. 2021 haben sie in Deutschland laut Statista 300 künstliche Hüftgelenke je 100.000 Einwohner eingesetzt – das ist eine der höchsten Raten derartiger Eingriffe weltweit. Der Durchschnitt aller OECD-Länder lag im selben Jahr bei 172 Operationen. Auch bei Knie-OPs liegt Deutschland im europäischen Vergleich vorne. Kein Wunder: Wenn das System in Krankenhäusern viele Eingriffe belohnt, sei es aus wirtschaftlicher Sicht völlig nachvollziehbar, dass sie diese auch vornehmen. Gerade Knieoperationen seien sehr lukrativ und sehr gut planbar.

Ein leeres Bett sorgt für Kosten

In Kliniken ist bisher die Anzahl der Behandlungen pro Bett entscheidend, um ausgelastet und damit kostendeckend zu sein. Auch das ist ein falscher Anreiz, möglichst das volle Programm abzuspulen. Über die von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach ausgearbeitete und jüngst verabschiedete Krankenhausreform soll sich das künftig ändern, ergänzend zu den Fallpauschalen soll es dann Vorhaltepauschalen geben. Noch sorgt ein leeres Bett nur für Kosten. Das Ziel: Die Verbesserung der Gesundheit muss sich lohnen und nicht das Erbringen von Leistungen.

Ist auch die Prävention eine Art gut getarnter Überversorgung? Als ein Beispiel dafür nennt Kühlein die Hautkrebsfrüherkennung. Nach dem Motto „Wer suchet, der findet“ steige zwar die Zahl der Fälle von Auffälligkeiten. Es sterben aber nicht weniger Menschen an Hautkrebs, seit es diese Untersuchung gibt, sagt er. „Deutschland ist das einzige Land der Erde, das ein solches Screening eingeführt hat.“ Auch die von der Politik eingeführten sogenannten Selbstzahler-Leistungen oder Individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL) sieht Kühlein kritisch.

Diese bieten niedergelassenen Ärzten seit 1998 eine zusätzliche Einnahmequelle. „Ein Arzt, der sich nicht mehr als fürsorglicher Begleiter versteht, sondern lediglich als Anbieter von Dienstleistungen, vielleicht sogar als Verkäufer von diversen medizinischen Angeboten, riskiert, das Vertrauen des Patienten zu verlieren“, sagt Kühlein. Für ihn steht aber auch die Politik in der Pflicht: „Finanzielle Anreize oder Sanktionen statt ärztlicher Professionalität dürfen nicht zum maßgeblichen Steuerungsinstrument in der Gesundheitsversorgung gemacht werden.“

Das Problem fängt schon beim Studium an

Einen weiteren Grund für die Überversorgung sieht der Mediziner darin, dass die evidenzbasierte Medizin in Deutschland zu wenig Beachtung findet: „Die evidenzbasierte Medizin sucht nach einer verlässlichen Antwort für die jeweils individuell beste Behandlung, die aber auch bedeuten kann, dass überhaupt keine nötig ist.“ Doch dieser Ansatz komme schon im Medizinstudium zu kurz.

Lehrpläne müssten die Arzt-Patienten-Kommunikation stärker berücksichtigen, Honorarordnungen das Patientengespräch aufwerten, meint Kühlein. „Bessere Kommunikation kann unnötige Medizin verhindern.“ Ärzte hätten auch viel mehr Zeit, wenn sie Unnötiges weglassen, ist er überzeugt. Die Frage: „Würde ich das selber machen?“ könnte bei der Einschätzung, ob etwas wirklich notwendig ist, helfen.

Falsche Patientensteuerung

Also eine Medizin auf Augenhöhe? „In der Hausarztpraxis gelangen wir gemeinsam mit unseren Patienten in einem komplexen, individuellen und interaktiven Prozess zu einer Entscheidung“, sagt Kühlein. Der Hausarzt müsse wieder erste Anlaufstelle für alle Belange der Patienten sein und weitere Maßnahmen koordinieren.

Weil man als Patient aber aufgrund der freien Arztwahl direkt in eine Facharztpraxis gehen könne, würden vorhandene Ressourcen dort immer wieder falsch genutzt und unnötig knapp. In anderen Ländern arbeitet der Großteil der Fachärzte an Kliniken, sagt Schwartze.

Auch der Sachverständigenrat im Gesundheitswesen kritisiert eine fehlende Patientensteuerung in Deutschland. Dies habe man vor einigen Jahren vergeblich mit der Praxisgebühr versucht aufzufangen. „Andere Länder haben ein Primärarztsystem, über das der Zugang zum Gesundheitssystem organisiert wird“, erläutert der Patientenbeauftragte. „In Deutschland wäre das das Hausarztmodell, worüber nach neuesten Auswertungen aus Baden-Württemberg über 40 Prozent Facharztkontakte gesenkt werden können.“

Deutsche gehen häufig zum Arzt

Sind die Deutschen wehleidiger als die Menschen anderer Länder? Sie sind zumindest im internationalen Vergleich recht häufig beim Arzt. Laut einer Statista-Grafik auf Basis von Daten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) besuchen Bundesbürger rund zehn Mal im Jahr einen Arzt – Zahnarztbesuche nicht mitgerechnet.

Der OECD-Durchschnitt liegt bei 6,6 Besuchen. An der Spitze befindet sich Südkorea mit rund 17 Arztbesuchen. In Schweden liegt die Zahl der Kontakte bei nicht einmal drei. Während der Arzt hierzulande gut sieben Minuten Zeit pro Patient hat, sind es in Schweden über 22 Minuten. Daraus ließe sich schließen: Wenn sich der Arzt mehr Zeit nimmt, sind die Menschen offenbar nicht so oft auf ihn angewiesen.

Die Wahrnehmung medizinischer Überversorgung ist aber vielschichtig. Das haben Interviews mit Patienten und Ärzten in der Bertelsmann-Studie gezeigt. So meinen 56 Prozent der Bevölkerung, dass Ärzte zu viele Behandlungen vornehmen, die den Patienten nichts nützen. Ebenso viele stimmen aber der Aussage zu, dass jede Therapie besser sei, als nichts zu tun.

Immerhin 83 Prozent vermuten, dass das Zuviel daran liegt, dass Ärzte und Krankenhäuser gut daran verdienen. Zwei Drittel der Ärzte begründet unnötige Maßnahmen mit dem Druck der Patienten. Die Aufklärung über den geringen Nutzen sei darüber hinaus oft aufwendiger als die Maßnahme selbst.

Vieles landet im Müll

Tatsächlich seien bis zu 30 Prozent aller Medikamente, Untersuchungen und Operationen medizinisch nicht zwingend nötig, stellt das Berliner Institut für Gesundheits- und Sozialforschung für die Bertelsmann-Stiftung dazu fest: Sie sind nicht nur unnötig und kostspielig, sondern manchmal sogar schädlich für die Patienten. Laut Schätzungen landen auch rund 40 Prozent aller verschriebenen Medikamente im Müll. Dennoch erklärt ein Patient in der Bertelsmann-Studie: „Ich bin noch nie ohne Rezept nach Hause gegangen. Das gibt mir ein gutes Gefühl: ernst genommen zu werden.“