Die Architektur der Zukunft hat in Stuttgart Tradition. Bereits vor fast hundert Jahren wurde hier in Gestalt der Weißenhofsiedlung ein Tor zum modernen Bauen aufgestoßen. Die weißen Flachdach-Kuben mit den langen schmalen Fensterbändern waren Ausdruck des neuen rein funktionalen Wohnens im 20. Jahrhundert. Dafür wurden auch preiswerte Materialien wie Leichtbeton, Kork und Trockenbau zur Kostenersparnis eingesetzt. Der Schwabe rechnet eben gern.
Daher war es folgerichtig, dass Stuttgart dieser baupolitischen Pionier-Rolle treu blieb und den Architekten Frei Otto (1925-2015) Mitte der 60er-Jahre an seine Technische Hochschule zog. Das Institut für Leichte Flächentragwerke setzte Maßstäbe. Visionär Frei Otto lieferte mit der Konstruktion der Münchner Olympiapark-Überdachung an der Seite des Wahl-Stuttgarters Günther Behnisch (1922-2010) sein noch heute bewundertes Meisterwerk ab.
Am Rottweiler Testturm beteiligt
Werner Sobek (68), Frei Ottos Nachfolger, steht diesem als Guru des Leichtbaus in nichts nach. Für die Schraube des ThyssenKrupp-Testturms in Rottweil hat er sich die luzide Glasfaser-Membran ausgedacht. In seinem Labor an der Uni Stuttgart wird schon für übermorgen geforscht und entwickelt. Die Idee des nicht nur leichten, sondern auch ökologischen Bauens nimmt konkrete – allerdings noch provisorische – Formen an.
Eine davon hat Werner Sobek kürzlich vorgestellt: 37 Meter hoch ist das Konstrukt aus Stahl und Holz. Es ist nicht zum Bewohnen gedacht, sondern soll beim Bauen der Zukunft helfen: An dem zwölfgeschossigen Hochhaus auf dem Uni-Gelände in Stuttgart-Vaihingen testen Forscher künftig, wie Gebäude nachhaltig gebaut werden und aussehen könnten.
Winddruck wird ausgeglichen
Der Turm ist so konstruiert, dass er Schwingungen etwa bei starkem Wind ausgleichen kann. Dehnungsmessstreifen registrieren mithilfe von Sensoren Veränderungen. 24 Hydraulikzylinder in Stützen und Streben können dann den Stahl um wenige Millimeter verschieben. Menschen im Gebäude sollen davon im besten Fall nichts merken. So ließen sich bis zu 50 Prozent Material einsparen, erklärt Oliver Sawodny, Sprecher von Sobeks Sonderforschungsbereich.
Architekt Werner Sobek ist nicht nur Professor, sondern als Unternehmer auch an bekannten Bauprojekten beteiligt. Eine kleine Auswahl:
Damit deckt sich das Ziel, Ressourcen zu schonen. Der Beitrag des Bauwesens bei weltweiten Emissionen betrage rund 40 Prozent, sagt Sawodny. Stahl- und Betonproduktion, aber auch der Transport sind teuer, belasten durch CO2-Ausstoß das Klima. Um die Klimaziele zu erreichen, ist laut Sobek ein drastischer Wechsel nötig.
Weniger Material, gleiche Festigkeit
Weniger Materialaufwand bei gleicher Standfestigkeit lautet ein Reform-Credo Sobeks. Grund: Es wird immer noch wie für die Ewigkeit Stockwerk auf Stockwerk getürmt. Die meisten Bauten, sagt Sobek, seien so konstruiert, dass die Elemente so gut wie nie ausgelastet seien. „Für den Moment, wo der schlimmste aller Stürme in 1000 Jahren mit dem schlimmsten Schneefall in 1000 Jahren zusammentrifft.“ Für die übrige Zeit seien die Konstrukte überdimensioniert. Der Aufwand an Material ist entsprechend hoch und teuer.

Das Schlagwort, das Sobeks Institut dagegensetzt, heißt Adaptivität – Anpassungsfähigkeit. Das neue Demo-Gebäude in Stuttgart ist demnach das erste adaptive Hochhaus der Welt. Quasi ein intelligentes Konstrukt, das sich jeweiligen (Wetter)Bedingungen flexibel anpasst.
Schwarze Ziegel speichern Wärme
Initiator Sobek hat Ganzheitlichkeit im Blick und denkt in ökologischen Bahnen. So sei die beste Farbe für ein Dach kein Ziegel-Terrakotta-Ton – sondern weiß im Sommer, um die Sonne abzuweisen. Und schwarz im Winter, um Wärme zu speichern.
Wann erste Adaptiv-Gebäude zur Nutzung gebaut werden, sei seriös nicht abzuschätzen, sagte Markus Müller, Präsident der Architektenkammer Baden-Württemberg. „Wir reden bei dieser Technologie auch nicht über das Einfamilienhaus.“ Relevant sei die Forschung mit Blick auf die wachsende Weltbevölkerung etwa in asiatischen Metropolen, die erdbebengefährdet sind und wo starke Stürme drohen.
Mit Sensoren und Rechnern
Ein Gebäude, so Müller, müsse nicht immer gegen einen Orkan geschützt, sondern nur dann, wenn es wirklich stürme. Dafür müssten oft nur wenige Elemente verstärkt werden. Erst mit neuen leistungsfähigen Rechnern und Sensoren seien solche Konstrukte möglich geworden, so Müller. So könnten Hotels etwa anhand von gesammelten Daten die Zimmertemperatur zum Aufstehen anpassen.
Mit 40 Millionen Euro und weiteren Fördermitteln verfügen die Stuttgarter laut Werner Sobek „über einen Geldtopf, der für die Bauforschung in Europa einmalig ist“. Nun sollen in und am Demo-Turm Materialien getestet werden, wie die Dächer mit Farbwechsel und Fassaden, die Regenwasser auffangen. Sobek sagt: „Am Ende ist es ein technologisches Wunderwerk.“