Thorsten Passie weiß, wovon er spricht. Der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie aus Hannover wurde als Sachverständiger zum Prozess der Freiburger Gruppenvergewaltigung hinzugezogen. Elf Männer stehen inzwischen seit Juni vor Gericht – wegen des Vorwurfs der Vergewaltigung und der unterlassenen Hilfeleistung. Sie sollen im Oktober 2018 eine junge Frau wenige Meter neben einem Technoclub im Freiburger Industriegebiet missbraucht haben.

Seit Juni wird der Fall vor dem Freiburger Landgericht verhandelt.
Seit Juni wird der Fall vor dem Freiburger Landgericht verhandelt. | Bild: Patrick Seeger/dpa

Der Experte soll den Zustand des Opfers, einer damals 18-Jährigen, beurteilen – sowohl in der Tatnacht, als sie unter dem Einfluss von Ecstasy, Alkohol und höchstwahrscheinlich auch sogenannter K.O.-Tropfen stand, als auch mehrere Monate nach dem Vorfall. Er zeichnet das Bild einer jungen Frau, die nicht gebrochen ist.

Frage der Glaubwürdigkeit

Von seinem Gutachten zu Franziska hängt in dieser Verhandlung einiges ab. Denn es geht auch um die Glaubwürdigkeit der jungen Frau. Sie nahm selbst Ecstasy ein und trank einen Cocktail, den sie von dem Hauptangeklagten bekam. Kurz darauf verlor sie die Kontrolle.

Das könnte Sie auch interessieren

Passie gilt als besonderer Experte – selbst für sein Gebiet. Denn er hat sich intensiv mit der Wirkung von Drogen auseinandergesetzt – auch mit Ecstasy. Die Wirkung der Partydroge hat er eingehend erforscht.

Einige der Angeklagten bedecken ihre Gesichter mit Aktenordnern. Sie sollen im Oktober 2018 eine 18-Jährige neben einer Disco im ...
Einige der Angeklagten bedecken ihre Gesichter mit Aktenordnern. Sie sollen im Oktober 2018 eine 18-Jährige neben einer Disco im Freiburger Industriegebiet vergewaltigt haben. | Bild: Patrick Seeger/dpa

Er sagt, der Stoff sorge bei den Konsumenten für ein Gefühl der Euphorie, der sogenannten Entängstigung, einem körperlichen Wohlgefühl und Empfindungen von Liebe und Mitgefühl sowie kommunikativer Offenheit. Aber, betont der Experte, die Droge steigere keinesfalls die sexuelle Lust, sondern eher „sanften Körperkontakt“ wie streicheln.

„Kuschelbedürfnis“ aber kein Sexhunger

Von diesem „Kuschelbedürfnis“ sprach auch bereits Volker Auwärter, forensischer Toxikologe am Universitätsklinikum Freiburg. Er hatte im November seine Einschätzung zu der Wirkungsweise von Ecstasy gegeben.

Und schon damals stand seitens mehrerer Verteidiger die Frage im Raum, ob die junge Frau durch die Einnahme der Droge einen gesteigerten sexuellen Drang empfunden haben und der Sex mit den Angeklagten gewollt gewesen sein könnte – ungeachtet der zahlreichen Verletzungen am Körper der 18-Jährigen, die teilweise aus dem forensischen Gutachten bekannt wurden.

Auwärter ging damals von einer hoch dosierten Ecstasy-Tablette aus, die Franziska zusammen mit ihrer Freundin eingenommen hatte. Das schloss der Experte damals aus den erhöhten Werten, die er im Blut der jungen Frau festgestellt hatte und weil die Polizei Tabletten mit ähnlicher Dosierung sicherstellen konnte.

Hochdosierte Pillen

Die Pillen enthielten demnach wohl etwa 160 Milligramm des Wirkungsstoffs, eine hohe Dosis. „Wer die Wirkung nicht gewöhnt ist, denkt in dem Moment an alles Mögliche, aber ganz bestimmt nicht an Sex“, stellte Auwärter damals klar. Viel wahrscheinlicher sei, dass eine so hohe Dosierung dafür sorge, dass die Betroffene gar nicht mehr realisiere, was um sie herum passiert.

Passie stützte die These, ergänzte sie aber durch seine Erkenntnisse der Drogenforschung. So setze sich der Zustand der Entängstigung bis zu zehn Stunden nach der aktiven Wirkungszeit der Droge fort.

Intensiviere Wirkung durch Alkohol

Durch Alkohol intensiviere sich die Wirkung der Droge noch einmal um bis zu 15 Prozent, sagte er. Kommen sogenannte K.O.-Tropfen ins Spiel, so führe deren Einnahme in einem von vier Fällen zur Bewusstlosigkeit. Charakteristisch für die im Blut nach wenigen Stunden schon kaum mehr nachweisbare Droge ist die Passivität, also die Handlungsunfähigkeit der Betroffenen, ebenso wie verwaschene Sprache und „Dösigkeit“, wie es Passie formuliert.

Das könnte Sie auch interessieren

Er ließ Franziska einen Fragebogen ausfüllen, mit dem er ihren Zustand zum Zeitpunkt der Einnahme der Ecstasy-Pille genauer einschätzen kann. Demnach habe die junge Frau ihren Körper kaum mehr kontrollieren können.

Blick in den Gerichtssaal: Die elf Angeklagten und Justizbeamte sitzen im Landgericht seitlich hinter ihren Anwälten. In der Mitte ...
Blick in den Gerichtssaal: Die elf Angeklagten und Justizbeamte sitzen im Landgericht seitlich hinter ihren Anwälten. In der Mitte stehen die Richter und Schöffen. | Bild: Patrick Seeger/dpa

Als Psychiater hat er die junge Frau getroffen, mehrere Monate später, im Januar 2019, als sie sich zur Stabilisierung in einer psychologischen Klinik aufhielt. Ihre Ausbildung, die sie begonnen hatte, musste die heute 19-Jährige unterbrechen. Seit jener Nacht leide sie an Einschlaf- und Durchschlafstörungen, fühle sich körperlich erschöpft und könne sich weniger gut konzentrieren, berichtet Passie.

Angstzustände und Vermeidung von Gruppen

Zwar habe sie nach ihren eigenen Angaben mehrmals Angstzustände gehabt, allerdings hauptsächlich in den Folgewochen der Tat oder wenn sie in für sie unvorhersehbarer Situationen geriet. Unmittelbar nach der Tat habe sie tagelang „wie neben sich gestanden“, vermeide Gruppen von Menschen. Sie habe aber keine Albträume – zumindest keine, die mit der Tat in Zusammenhang stünden.

Das könnte Sie auch interessieren

Passie betonte, dass die junge Frau keinerlei Schuld- oder Schamgefühle habe wegen jener Nacht. Eher empfinde sie Wut – weil so viele Menschen zu wissen glaubten, wie sie sich fühle.

Der Fall umfasst unzählige Aktenordner.
Der Fall umfasst unzählige Aktenordner. | Bild: Patrick Seeger/dpa

An die Tatnacht erinnert sie sich teils ganz genau, teils bleiben ihr nur Erinnerungslücken, berichtet Passie weiter. Wie sie Majd H., dem Hauptangeklagten, nach draußen gefolgt war, um seine Tattoos zu sehen. Ihr Gefahrenbewusstsein sei zu diesem Zeitpunkt „wie außer Kraft gesetzt“ gewesen, schon zuvor sei sie auf der Tanzfläche völlig absorbiert gewesen von der Wirkung der Droge.

Sie erinnere sich, wie der junge Mann sie gepackt hatte, als sie zurück in den Club gehen wollte. Wie sie zu Boden stürzte und er in sie eindrang. „Ich habe mehrmals laut ‚Nein‘ gesagt, das hätte er ohne Frage hören müssen“, soll sie dem Psychiater in dem Gespräch gesagt haben. Körperlich habe sie sich nicht wehren können, sei im Schock über die plötzliche Wendung der Situation gewesen.

Bruchstückhafte Erinnerung

Sie erinnert sich auch bruchstückhaft an die anderen, die danach kamen. Ob sich mehrere gleichzeitig an ihr vergingen, weiß sie nicht mehr. Aber sie erinnere sich an einzelne Sinneswahrnehmungen. Wie Hände ihren Kopf festhielten und sie zu Sex zwangen. Man hätte „alles mit ihr machen“ können, sagte sie dem Experten.

Sie habe keine Kontrolle mehr gehabt, keine Koordination ihrer Gliedmaßen. Das passt zu Passies Erläuterungen, wie der Cocktail verschiedener Drogen wirke: „Für die Mischintoxikation und Überdosis gibt es keine Studien, aber die Auswirkungen reichen bis zum Ausfall des kognitiven Systems“, betont er vor Gericht.

Die junge Frau habe Schwierigkeiten damit gehabt, sich einzugestehen, dass sie vergewaltigt worden sei, sagt Passie. Sie selbst gehe davon aus, dass sie zwischenzeitlich bewusstlos gewesen sei.

Droge beeinflusst Urteilsfähigkeit

Als Muhamad M. zu ihr ins Gebüsch kam, sei sie wieder langsam Herrin ihrer Sinne geworden. Er ist einer der drei Angeklagten, die nicht mehr dringend tatverdächtig sind wegen des Vorwurfs der Vergewaltigung. Er will ihr nur geholfen haben, sich anzuziehen. Sie hätte ihm ihr Leben anvertraut, sagte sie damals – „wohl durch die verbliebene Wirkung der Tablette“, sagte sie Passie.

Sie übernachtete bei dem jungen Mann mit ihrer Freundin, geschlafen habe sie aber nicht, obwohl sie vollkommen erschöpft gewesen sei. Am Morgen seien sie gemeinsam aus der Wohnung gegangen. In Franziskas Kopf hatte sich ein Hebel umgelegt: Plötzlich war sie sich der potenziellen Gefahr bewusst: „Bloß schnell hier raus“, habe sie gedacht. Dass das Schlimmste bereits eingetroffen war, realisierte sie erst in den Stunden danach.