Kann man an einem solchen Tag eigentlich Fasnacht feiern? Elf Menschen sterben in der Nacht, bevor in Stockach der Höhepunkt des Jahres stattfinden soll: Da urteilt das Hohe Grobgünstige Stockacher Narrengericht alljährlich über einen prominenten Politiker und die Stockacher Narren veranstalten ein buntes Treiben durch die 17.000-Einwohner-Stadt.
Geht das? Es muss.
Bonbonwerfen, Narrenbaum setzen, Alkohol und Scherze – geht das unmittelbar nach einer rechtsextremistischen Hass-Tat ein paar hundert Kilometer entfernt?

Es geht. Mehr noch: Es muss. „Kurz gezuckt“ habe er am Morgen, erzählt Jürgen Koterzyna, seines Zeichens Narrenrichter und einer der wichtigsten Repräsentanten der Stockacher Fasnacht, und sich dann gegen eine Absage entschieden: „Wir sollten unser närrisches Leben, unser Brauchtum nicht hinten anstellen – damit würden wir nur den Attentätern nachgeben“, sagt er dem SÜDKURIER.
„Die närrische Zeit ist eine bunte Zeit. Rassismus hat bei uns keine Chance.“Cem Özdemir, grüner Bundestagsabgeordneter und Beklagter
Der Beklagte, Grünen-Politiker Cem Özdemir, wird noch deutlicher: Morgens im Bürgerhaus Adler Post und mittags, als er sich der Stockacher Allgemeinheit vorstellt, schickt er seiner Rede eine Beileidsbekundung für Opfer und Angehörige der Gewalttat voraus.
Täter wie der von Hanau richteten sich gegen alles, „wofür wir stehen“. Sie wollten das Land ins Chaos stürzen, schon deshalb will sich Özdemir von dieser Tat nicht bestimmen lassen. Dazu kommt: „Die närrische Zeit ist eine bunte Zeit. Rassismus hat bei uns keine Chance“, ruft Özdemir ins Mikrofon – und erntet eine Menge Applaus.
Der erste Muslim, dem diese Ehre zuteil wird
Auch wenn das keine Rolle gespielt haben kann bei seiner Auswahl, ist Cem Özdemir gewissermaßen genau der richtige Beklagte für diesen Tag: Der ehemalige Grünen-Vorsitzende (2008-2018) war 1994 einer der beiden ersten Abgeordneten mit türkischen Wurzeln im Bundestag. Nun ist er der erste Türkischstämmige, der erste Muslim, dem die Ehre zuteil wird, vom Grobgünstigen Gericht verurteilt zu werden.
Die Richter suchen sich nur die Prominenten unter den Politikern aus, die Liste der ehemaligen Beklagten liest sich wie ein Who‘s who der deutschen Politik. Nun also Özdemir, der sagt: „Die Fasnet ist bunt, da wird man nicht danach beurteilt, wo man herkommt. Sonst wär ich heute nicht hier.“
„Deswegen ist unser Fest, das wir heute feiern, die richtige Antwort. Wenn solche Täter das Sagen haben sollten, dann haben wir wirklich nichts mehr zu lachen.“Winfried Kretschmann, Ministerpräsident von Baden-Württemberg und Zeuge
Am Abend wird er von Winfried Kretschmann, Ministerpräsident von Baden-Württemberg und Özdemirs Zeuge vor Gericht, bestätigt: Der grüne Landesvater bittet die Gäste in der Jahnhalle vor der Gerichtsverhandlung um Gehör und um einen Moment der Stille. Er habe sich am Morgen überlegt, ob er zur Fasnacht gehen könne.
Aber Cem Özdemir, ein Mann mit türkischem Namen, entspreche gerade dem „perversen Raster, mit dem solche Täter ihre Opfer auswählen, weil sie den falschen Namen haben oder die falsche Hautfarbe“.
Erster Schlagabtausch
Die Tat sei ein Anschlag auf den Frieden und die offene Gesellschaft. „Deswegen ist unser Fest, das wir heute feiern, die richtige Antwort. Wenn solche Täter das Sagen haben sollten, dann haben wir wirklich nichts mehr zu lachen.“

Zu lachen gibt es trotz der traurigen Ereignisse einiges in Stockach. Morgens im Bürgerhaus beginnt der Tag mit einem ersten Schlagabtausch zwischen Narrenrichter Koterzyna und dem Beklagten. „Wer so eine Anklage fabriziert, der hat seine juristische Ausbildung bei Erdogan gemacht“, gibt sich Özdemir angriffslustig.
Nur so könne er sich den „Justizskandal“ der Anklage gegen ihn erklären. Der säkulare Moslem zeigt sich bibelfest und droht, ganz türkischer Migrationshintergrund, einen Satz später damit, Spezialist für vergorenen Ayran zu sein: „Der schmeckt sehr gut, wenn man ihn nicht selber trinken muss.“
Koterzyna gibt kräftig zurück: „Ich dachte immer, Sie seien ein Realo, aber Sie sind ein Traumtänzer.“ Hier wolle ihm einen ganzen Tag lang mal keiner was Böses, sagt er, schließlich seien kaum grüne Fraktionskollegen da. Die hatten Özdemir vergangenen Herbst hängen lassen, als er den Machtkampf um den Fraktionsvorsitz der Grünen im Bundestag verlor. Jetzt kann er drüber lachen.
Lange Liste der gescheiterten Beklagten
Nicht allen Beklagten ist der Besuch im Narrengericht wohl bekommen. Koterzyna zählt sie auf – Andrea Nahles, von der SPD-Spitze „weggemobbt“, Landesinnenminister Thomas Strobl (CDU), der nicht Spitzenkandidat werden darf, Kanzlerin Angela Merkel, der nicht mehr nur symbolisch ans Bein gepinkelt werde.
Und dann natürlich Annegret Kramp-Karrenbauer, die sich mit einem derben Scherz über verweichlichte Männer, die wohl die Toilette fürs dritte Geschlecht benutzten, ins Fettnäpfchen setzte. „Alle sind sie ihre Spitzenämter los, nur gut, dass der aktuelle Beklagte keines hat“, sagt Koterzyna.

Andreas Jung, CDU-Bundestagsabgeordneter für den Wahlkreis Konstanz, der abends selbst noch als Beklagter zur Katzenzunft nach Meßkirch darf, ist genauso wie Özdemirs Parteifreundin, die Landtagsabgeordnete Nese Erikli, der Überzeugung, dass Özdemir nicht ausrutschen wird auf dem schmotzigen Narrenparkett.
Schon eher könnte der Vegetarier Hunger leiden an diesem Tag der fettigen Würstchen und dicken Fleischkäs-Scheiben. Doch das Catering hat mitgedacht – und für Gemüseburger gesorgt. Özdemir selbst hat, um Ungemach vorzubeugen, extra gut gefrühstückt.
Der Schwabe zögert, aber lässt sich doch nicht lumpen
Brauchen kann er die Energie, denn der Tag der Gerichtsbarkeit ist lang: Auf die Vorstellung ab 11 Uhr folgt der Zug durch die Innenstadt. Eine kurze Rast winkt am Badischen Hof beim Wirt Hermann Schmeißer. Während der Eintracht-Chor ein eigens gedichtetes Ständchen schmettert auf den „großen grünen Kaktus“ Özdemir, plaudert derselbe mit der örtlichen Politprominenz.
Auf dem Weg zurück mit dem Baum im Schlepptau sind allerhand Scherze angesagt, bei denen der Beklagte richtig schaffen muss. Lediglich Geld ist von ihm beim Setzen des Narrenbaums gefragt. Denn die Zimmerer treten regelmäßig in Streik, um den Beklagten zu Gaben zu zwingen. Der Schwabe zögert zunächst, lässt sich dann aber doch nicht lumpen.
Am Abend schließlich stehen Verhandlung und Urteil an. Da darf der scharfzüngige Kläger Wolfgang Reuther alle Punkte der Anklage genüsslich aneinanderreihen.
Allein dreifache aktive Sterbehilfe wirft er Özdemir auf äußerst unterhaltsame Weise vor. Darunter die an Jamaika und die an den grünen Fundis, die fast vollends aus den angestammten Habitaten verdrängt wurden von Realos wie Özdemir.
„Spätzlestürke“ und „Dönerschwabe“
Reuther schreckt auch an einem solchen Tag nicht davor zurück, Özdemir ob seines Migrationshintergrunds ordentlich aufs Korn zu nehmen, nennt ihn Spätzlestürken und Dönerschwaben.
Fürsprech Michael Nadig bügelt die Vorwürfe aufs Trefflichste ab. Die alte Geschichte mit den verteilten Bonusmeilen? Özdemir sei im Prinzip der Erfinder der Flugscham, ein barmherziger Samariter der Lüfte!
Kretschmann schließlich packt den Kläger bei seiner sprachlichen Ehre. Von diesem sei ja keine Gerechtigkeit zu erwarten, wenn er den Cem anklage – „obwohl der besser Schwäbisch kann als der Kläger Badisch“. Und natürlich könnten solche schwarzen Karnivoren, wie der ehemalige CDU-Landtagsabgeordnete Reuther, wenig anfangen mit einem grünen Vegetarier.
Überzeugt kriegt er den Kläger schließlich mit dem Verweis auf die Diät, von der Özdemir leben müsse. „Da kannst du dir keinen Sonntagsbraten leisten, sondern nur Gemüse.“

Trotzdem setzt sich der Kläger mit den von ihm geforderten drei Eimern à 60 Litern Wein im Urteil durch – und das, obwohl Özdemir lediglich in einem Punkt schuldig gesprochen wird, der Vorteilsnahme im Amt. Woran das liegt, weiß man beim Narrengericht nie so genau. Närrischer Zufall? Oder herrscht Ebbe im närrischen Weinkeller? Demnächst dürfte er wieder gefüllt sein – mit Stuttgarter Trollinger, wenn Özdemir seine Ankündigung wahr macht.