Er trägt die Narrenkappe, ruft den Menschen am Straßenrand ein kräftiges „Narro“ zu und steht immer wieder für Fotos zur Verfügung, die die Presse oder das närrische Volk von ihm machen möchten – Cem Özdemir gibt sich vor der Verhandlung vor dem Narrengericht volksnah und begeistert damit die Stockacher und alle, die gekommen sind, um ihn zu sehen.
Zwar verspätet er sich zunächst und wirkt beim Schunkeln mit dem Kollegium des Narrengerichts zum Schneewalzer noch etwas steif. Dennoch kommt er bei den Stockachern gut an. Als er mit Bezug auf das hessische Hanau, wo ein Mann zehn Menschen erschossen hat, betont, dass die Fasnacht bunt und jeder Mensch gleich ist, erntet er dafür Applaus, von den närrischen Besuchern und vom Narrengericht.

Und Cem Özdemir zeigt, dass er sich auf seinen Auftritt in Stockach gut vorbereitet. Während er von Narrenrichter Jürgen Koterzyna einige Seitenhiebe bezüglich seines Veganismus einstecken muss und Bürgermeister Rainer Stolz ihn mahnt, seine Schuld nicht abzustreiten, um beim Urteil glimpflich davon zu kommen, macht Özdemir sich konzentriert Notizen.
Bei der Ansprache vor den Anwesenden gibt er sich dann siegessicher, wirft Kläger Wolfgang Reuther sogar vor, seine juristische Ausbildung nicht in Deutschland, sondern unter dem türkischen Präsident Erdogan gemacht zu haben, so substanzlos sei die Anklage.
Und im „unwahrscheinlichen Fall“, dass es doch zu einer Verurteilung komme, droht Özdemir dem Narrengericht mit vergorenem Ayran, einem Getränk, das unvergoren unter anderem in der Türkei beliebt ist – und laut Özdemir im vergorenen Zustand ungenießbar wird.
Sogar Narrenrichter Koterzyna gibt bei der anschließenden Kriegsratszene vor dem Bürgerhaus zu: „Schlecht hat er sich nicht geschlagen.“ Deutlich macht er dennoch, dass Özdemir mit einem Freispruch besser nicht rechnen sollte.
Dafür stehen viele Stockacher auf der Seite des Beklagten. Eine Frau trägt ein Schild mit der Aufschrift „Free Cem„ (Deutsch: Befreit Cem).
Im Badischen Hof, wo der Beklagte traditionell während des Narrenbaumumzugs einkehrt, singt der Eintracht-Chor 1836 Stockach Özdemir ein Ständchen. Leiter Udo Krummel hat den Liedtext extra für den Beklagten gedichtet. Gelobt wird darin sein Einsatz für mehr Bildung und Nachhaltigkeit. „Solch Engagement gefällt. Zur Stärkung unser Held ein schwäbisch-spinatgrünes Nudelset erhält“, heißt es – und tatsächlich überreicht der Chor Özdemir eine Packung grüner Nudeln und dazu eine Zeichnung des Beklagten samt Liedtext. „Ganz großartig“, lobt der Grünen-Politiker.
Und damit nicht genug: Von Hermann Schmeißer, Wirt des Badischen Hofs, gibt es weitere Präsente, darunter ein Buch über die Fasnacht. Özdemir dankt es ihm mit einem Eintrag in das Gästebuch. Fürsprech Michael Nadig wird da ganz übermütig: „Auf den Freispruch“, prostet er den Anwesenden zu.
Es dauert aber noch ein wenig, bis Cem Özdemir den entscheidenden Schritt macht, mit dem er die Herzen der Stockacher endgültig erobern dürfte: Als er sich gemeinsam mit den Narren und dem Narrenbaum im Schlepptau auf den Weg zurück in die Hauptstraße macht, sorgt er gleich zweimal dafür, dass der Stammbaum aller Narren seinen Platz vor dem Bürgerhaus Adler Post überhaupt erreichen kann.
Zuerst räumt er eigenhändig eine Absperrung beiseite, die freche Narren auf der Straße aufgebaut haben, dann beweist er Muskelkraft und schlägt mit einer Spitzhacke den Weg an einem großen Stein vorbei frei. Und einigt sich mit einigen Hänsele auf einen Kasten Rothausbier, damit diese das Loch für den Narrenbaum freigeben.
Schließlich zeigt er sich auch den Zimmerern gegenüber großzügig und bewegt sie mit etwas finanzieller Unterstützung dazu, ihren Streik beim Narrenbaumstellen zu beenden.
Dass all der Einsatz nicht für einen Freispruch reicht, überrascht dennoch nicht. Ein schöner Besuch in Stockach war es allemal. Das beweist auch Özdemirs Eintrag in Hermann Schmeißers Gästebuch: „Ein unvergesslicher Tag“, urteilt der Beklagte dort.