Es ist die nächste Runde in einem großen Familiendrama. Auf der einen Seite: Ein 22-Jähriger, der seine Schwester über Monate hinweg gefoltert und missbraucht haben soll – und seine Eltern, die, so viel lässt sich zu Beginn des neuerlichen Verfahrens nach der Revision festhalten, wohl hinter ihrem Sohn stehen.

Und auf der anderen Seite die Schwester, die laut Anklage brutal gequält worden ist, und fünf weitere Geschwister, die zumindest auch verletzt worden sein sollen und sich vor ihm fürchten. Die aber ihre Aussagen noch vor der Hauptverhandlung zurückgezogen haben, sodass am Konstanzer Landgericht erneut prozessiert werden muss, weil ein Teil der Aussagen im ursprünglichen Urteil berücksichtigt wurde.

Befreiungsaktion mit einer Finte

Monatelang soll der damals 20-Jährige die Schwester in seinem WG-Zimmer in Konstanz festgehalten haben, sie geschlagen, verbrannt, vergewaltigt haben. Als der Angeklagte den großen Saal betritt, hält er sich einen weißen Ordner nah vor sein Gesicht. Er möchte nicht fotografiert werden.

Er nimmt Platz, dreht sich selbstbewusst zu den Justizbeamten hinter sich um, hält ihnen die Hände, dass ihm die Fesseln abnehmen mögen. Die geben ihm zu verstehen: Er muss noch warten, bis die Richter da sind.

„Da muss der Angeklagte durch“

Nachdem die Staatsanwaltschaft die Anklage verlesen hat – es geht um 50 Fälle von Gewaltakten und fünfmalige Vergewaltigung, beschuldigt ist er als Heranwachsender, weil er zur Tatzeit noch jünger als 21 war – beantragt sein Anwalt den Ausschluss der Öffentlichkeit. Als Inzest-Prozess hatte das ursprüngliche Verfahren bundesweit für Schlagzeilen gesorgt, im Gefängnis sei sein Mandant deshalb angegriffen worden, argumentiert Sandro Durante. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass es wieder dazu kommt.

Sandro Durante, Konstanzer Rechtsanwalt, im Großen Saal des Landgerichts.
Sandro Durante, Konstanzer Rechtsanwalt, im Großen Saal des Landgerichts. | Bild: Jann-Luca Künßberg

Das lässt den Vorsitzenden Richter Arno Hornstein ziemlich kalt: „Da muss der Angeklagte grundsätzlich durch“, sagt er in Bezug auf die Öffentlichkeit. Der Antrag wird dennoch beraten und schließlich abgelehnt – wer sich solcher Taten dringend verdächtig mache, müsse damit leben, dass das öffentlich erörtert werde, so Hornstein.

Nur unter einem Vorwand kommen sie zur Polizei

Die Vernehmung der ersten Zeugin, einer Polizeibeamtin, zeigt die Trennlinie, die durch diese Familie zu verlaufen scheint: Das heute 20-jährige Hauptopfer und die Schwester seien bei ihrer Befragung total nervös gewesen, hätten gesagt, es sei total unglaubhaft, wenn sie so lange wegblieben. Denn nur mit einem Vorwand gegenüber den Eltern waren sie zur Polizei nach Konstanz gekommen.

Die Familie lebt nämlich in einer Flüchtlingsunterkunft in Schwäbisch Gmünd, seit sie 2021 über die Türkei und Griechenland aus Syrien nach Deutschland gekommen sind. Der Angeklagte lebt schon seit 2015 hier – nachdem sein Vater im Krieg ein Bein verloren hatte, musste er sich hauptsächlich um die Familie kümmern und Geld verdienen.

Die Polizistin berichtet weiter, sie habe ihm im Gefängnis eine neue DNA-Probe abnehmen sollen, da sei er sehr ungehalten geworden, sodass die Wärter intervenierten. Der männliche Wachhabende habe dann mit ihm gesprochen, daraufhin habe es geklappt.

Schwester bittet Sozialarbeiterin um Hilfe

Aber wie sind die Behörden überhaupt auf den Fall aufmerksam geworden? Eine der Schwestern, die selbst schon ein Kind hat, wollte nicht mit ihrer Familie gemeinsam in Schwäbisch Gmünd leben – wohl aus Angst vor dem Bruder, so sagen es Zeuginnen aus.

Sie kam in eine andere Unterkunft, baute dort ein zunehmend enges Verhältnis zu der Sozialarbeiterin auf. Und kam eines Tages tränenüberströmt in deren Büro und berichtete von der festgehaltenen Schwester, zeigte Fotos von deren Verletzungen, wollte die Polizei dazu holen.

Wie kann die junge Frau befreit werden?

Doch wie sollte die junge Frau aus der Wohnung in Konstanz befreit werden? Der Bruder habe schließlich gedroht, sie umzubringen, falls sie zur Polizei gehe – so hatte sie es laut deren Aussage der Sozialarbeiterin berichtet.

Die Polizei machte sich dann den 18. Geburtstag der Frau zunutze, erzählt die zweite Beamtin im Zeugenstand: Der bedeutete nämlich, dass sie ein eigenes Konto bekommen durfte, auf das dann die Asylleistungen überwiesen werden. Dafür musste sie aber für eine Unterschrift ins Amt für Migration kommen.

Dorthin kam dann auch die Polizei. Die Frage, ob der Bruder auch da sei, habe die Mutter verneint, sagt die Polizistin vor Gericht. „Die Eltern stehen total hinter ihm“, sagt sie, „die anderen Kinder sind für sie Lügner.“ Verteidiger Durante kritisiert sie dafür, das seien zu viele Mutmaßungen.

Der Angeklagte verliert kurz die Fassung

Die Schwester habe dann aber der Mutter widersprochen und gesagt, er sei auch da, berichtet die Zeugin weiter. Als sie mit der Polizistin alleine war, sei sie sofort in Tränen ausgebrochen. Die Festnahme gelingt.

Und sie sagt: „Als ich ihn über seine Rechte belehrt habe, hat er gesagt, Frauen glaube man nicht.“ Jetzt flippt der Angeklagte bei Gericht aus, ruft: „Was laberst du?“ Das wiederum duldet Richter Hornstein nicht: „Sie sind jetzt ruhig, sonst geht es hier ohne Sie weiter.“

Die Eltern sagen nichts

Die Eltern kommen später in den Saal, aber nur kurz – sie machen beide von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch und sagen wie ihr Sohn: nichts.

Unklar bleibt an diesem ersten Tag der neuen Verhandlung, was nun mit den Aussagen des Opfers passiert: Dürfen sie einbezogen werden oder nicht? Die Kammer will das in Ruhe erörtern. Am Dienstag, 14. Mai, geht es weiter.