Das von der EU-Kommission diskutierte PFAS-Verbot ist höchst umstritten. Einerseits gelten die Chemikalien als Risiko für Mensch und Umwelt. Andererseits sind sie unentbehrlich für die Herstellung etlicher lebensrettender Medizinprodukte. „Sie springen aus dem Flugzeug, bevor sie den Fallschirm erfunden haben“, sagt der Physiker Martin Leonhard dazu. Denn PFAS sind für die Medizintechnik bisher alternativlos.

Was sind PFAS genau?

Als PFAS (per- und polyfluorierte Chemikalien) wird eine Gruppe von rund 10.000 verschiedenen industriell hergestellten Stoffen bezeichnet. Sie alle haben etwas gemeinsam: Sie sind extrem langlebig, wasser- und fettabweisend und reagieren weder chemisch noch thermisch mit anderen Stoffen.

Aufgrund dieser Eigenschaften sind PFAS in zahlreichen Alltagsprodukten enthalten, darunter Outdoor-Kleidung, Bratpfannen oder Kosmetika. Doch insbesondere für die Herstellung moderner medizinischer Instrumente sind PFAS unverzichtbar – so wären beispielsweise Implantate ohne den Einsatz der Werkstoffe deutlich kurzlebiger.

Gefahr für Mensch und Umwelt

Das Problem an der Sache: Gelangen PFAS in die Natur, werden sie dort nur sehr langsam abgebaut. So haben Ergebnisse des Forever Pollution Project gezeigt, dass allein in Deutschland 1800 Orte mit PFAS belastet sind. Bei dem Projekt handelt es sich um eine Recherche von 18 europäischen Nachrichtenredaktionen, zu denen auch „Süddeutsche Zeitung“, NDR und WDR gehören.

Auch im menschlichen Körper bauen sich die Stoffe kaum ab. Doch nicht nur das – sie stehen sogar im Verdacht, gesundheitsschädlich zu sein. In einer neuen Studie des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung (UFZ) heißt es beispielsweise: „Sie können zu Leberschäden, Schilddrüsenerkrankungen, Fettleibigkeit, hormonellen Störungen und Krebs führen.“ Einige der Substanzen, darunter PFOS und PFOA, wurden wegen dieser Bedenken bereits verboten. Nun berät die EU darüber, sie alle aus dem Verkehr zu ziehen.

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Genau das hätte laut den Vertretern von Karl Storz – einem führenden Hersteller in der Endoskopie mit Sitz in Tuttlingen – jedoch fatale Folgen: „Etwa die Hälfte der stationären Eingriffe in Deutschland könnten ohne die Verwendung der Chemikalien nicht mehr stattfinden“, sagt Michael Banghard, Leiter der Materialkonformität bei Karl Storz in einem Gespräch mit dem SÜDKURIER. In der Folge könnten Millionen von Patienten nicht mehr behandelt werden, würden unnötig leiden oder schlimmstenfalls sogar sterben.

Michael Banghard ist Medizintechniker und Materialwissenschaftler. Bei Karl Storz leitet er den Bereich Materialkonformität.
Michael Banghard ist Medizintechniker und Materialwissenschaftler. Bei Karl Storz leitet er den Bereich Materialkonformität. | Bild: Karl Storz

Der Grund: Rund die Hälfte der medizinischen Geräte, die der Konzern vertreibt, beinhalten PFAS. „Aber es betrifft nicht nur unsere Produkte“, sagt Martin Leonhard, Leiter des Bereichs Government Affairs bei Karl Storz. Kein Endoskop, kein Herzschrittmacher, kein Beatmungssystem könne ohne die Werkstoffe hergestellt werden. Ohne Beatmungssysteme könne wiederum kein Eingriff mehr in Vollnarkose stattfinden.

Das gelte auch für minimalinvasive Eingriffe, denn dafür würden die Instrumente fehlen. „Für jeden Eingriff müsste man dann großflächig aufmachen“, erklärt Unternehmenssprecherin Anja Ebert. Für Patienten aus ganz Europa könne ein Verbot daher bedeuten, für bestimmte Operationen ins Ausland reisen zu müssen.

Anja Ebert ist Leiterin der Unternehmenskommunikation bei Karl Storz.
Anja Ebert ist Leiterin der Unternehmenskommunikation bei Karl Storz. | Bild: Karl Storz

PFAS für Medizintechnik unersetzbar

Es ist ein Dilemma. PFAS zählen zu den stabilsten Verbindungen der Welt, weshalb sie für die moderne Medizintechnik so bedeutend sind – eben gerade weil sie sich kaum abbauen. Und wegen dieser einzigartigen Eigenschaften gibt es aktuell weltweit keine funktionierenden Alternativen.

Noch schlimmer: Es gebe nicht einmal relevante Forschungsprojekte zum Thema, sagen Experten. „Und selbst wenn ein Ersatz gefunden würde – es würde mehr als ein Jahrzehnt dauern, bis diese Stoffe ausgereift und zugelassen wären“, warnt Michael Banghard.

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Was er damit meint, veranschaulicht der Medizintechniker an einem Beispiel: „Elektroden für Herzschrittmacher enthalten PFAS namens ETFE.“ Diese Implantate müssten zum Teil 40 Jahre lang im menschlichen Körper bleiben, so Banghard. „Das kann aktuell kein anderes Material leisten.“ Allein die Testphase eines möglichen Ersatzprodukts würde Jahrzehnte dauern.

Ein anderes Beispiel ist das Resektoskop – ein Instrument, das verschiedene PFAS enthält und unter anderem für Operationen an Blase und Prostata verwendet wird. Das Resektoskop dürfe nicht an Körperstellen kleben bleiben, müsse sanft gleiten und einen sicheren Stromfluss ohne Kurzschluss gewährleisten, wie Martin Leonhard erklärt. Ohne den Einsatz von PFAS sei das bisher undenkbar.

„Es ist unbestritten, dass es darunter auch giftige und gefährliche Substanzen gibt.“
Michael Banghard, Leiter Materialkonformität, über PFAS

Trotz aller Kritik am geplanten PFAS-Verbot räumt Michael Banghard ein: „Es ist unbestritten, dass es darunter auch giftige und gefährliche Substanzen gibt.“ Daher fordert der Medizintechniker eine erneute Untersuchung der einzelnen Stoffgruppen, die sogenannte Risikoanalyse. Außerdem soll dafür gesorgt werden, dass bei der Herstellung und Entsorgung weniger Substanzen in die Umwelt gelangen.

Zudem betont Martin Leonard: „Wir nutzen in unseren Endoskopen PFAS-Substanzen, die von der OECD als unbedenkliche Polymere ausgewiesen sind, und brauchen nicht viel davon, aber an gewissen Stellen kommt man nicht drumherum.“

Martin Leonhard ist promovierter Physiker und leitet den Bereich Government Affairs bei Karl Storz.
Martin Leonhard ist promovierter Physiker und leitet den Bereich Government Affairs bei Karl Storz. | Bild: Karl Storz

Eine Sprecherin der EU-Kommission bestätigt auf Nachfrage, man wolle die Verwendung von PFAS schrittweise einstellen, „sofern sie nicht nachweislich für die Gesellschaft unverzichtbar sind“. Konkreter wird sie dabei nicht.

Bevor die Kommission einen Entschluss fasse, würden wissenschaftliche Ausschüsse der Europäischen Chemikalienagentur (ECHA) den Vorschlag allerdings noch bewerten. Auf dieser Grundlage wollen die Europäische Kommission und die EU-Mitgliedstaaten über das weitere Vorgehen entscheiden.

Toxikologe: „Das ist mehr hysterisch als bedacht“

Bei Karl Storz ist man sich sicher: Die EU handelt übereilt und vernachlässigt damit das Wohl der Patienten. Ähnlich sieht es auch Daniel Dietrich. Als „mehr hysterisch als bedacht“ bezeichnet der Toxikologe der Universität Konstanz das geplante Verbot.

Daniel Dietrich ist Professor für Human- und Umwelttoxikologie an der Universität Konstanz.
Daniel Dietrich ist Professor für Human- und Umwelttoxikologie an der Universität Konstanz. | Bild: Daniel Dietrich

Laut Dietrich, der unter anderem als Risikoberater für die EU tätig ist, sei es „Blödsinn, alle PFAS unbedacht zu verbieten“. Denn nicht alle der rund 10.000 Stoffe seien gleich. Es gebe zwar Studien zu den Risiken von einzelnen PFAS, diese seien jedoch nicht belastbar – weil uneinheitlich und fehlerhaft bewertet.

Experte fordert erneute Prüfung aller PFAS-Gruppen

Deshalb plädiert auch Daniel Dietrich dafür, jede Substanzgruppe erneut zu prüfen – und zwar auf ihre Notwendigkeit, ihre wirtschaftliche Unersetzbarkeit sowie ihr Risiko für Mensch und Umwelt. Zudem müsse man prüfen, welche der PFAS zwar schwer abbaubar, jedoch nicht gesundheitsgefährdend sind.

Im letzten Schritt sollen Forscher bewerten, ob es eine Alternative gibt. Daniel Dietrich: „Wenn es keine Alternativen gibt, muss ich mich fragen: Wie kann ich sicherstellen, dass sie nicht in die Umwelt gelangen?“ Mit genügend Zeit könne man aus allem Innovationen generieren, sagt der 64-Jährige und fügt an: „Die Frage ist nur, muss es Hals über Kopf passieren oder kann es sich entwickeln?“