Die Vorstellung war zu schön für die Glaubensgemeinschaften: Die Pandemie läuft leise aus – und die Gläubige strömen in die Kirchen zurück. Wenn die letzten Einschränkungen erst einmal gefallen sind, können auch die Gottesdienste dort anknüpfen, wo sie im Februar 2020 aufgehört hatten. Also Kirchenbesuch ohne Kontrolle oder Voranmeldung, gefüllte Weihwasserbecken, freie Platzwahl, herzhaftes Singen (zur Not mit Mundschutz). Doch weit gefehlt: Die Gläubigen bleiben weg, auch wenn die Coronaregeln immer mehr abgeschwächt werden. Ein Drittel der Stammgäste ist abwesend. Dass sich ihre leeren Bänke in naher Zukunft wieder füllen, glauben auch die Optimisten nicht.
Für diese dramatische Entwicklung gibt es einleuchtende Gründe. „Wir sind noch nicht da, wo wir waren“, räumt die evangelische Pfarrerin Regine Klusmann (Überlingen) ein. Ein Motiv: Viele ihrer Mitglieder seien eben bejahrt und schützen sich, in dem sie seit Frühjahr 2020 den Sonntagsgottesdienst meiden – so wie sie auch andere Zusammenkünfte umgehen, wo nur möglich. „Viele haben sich angewöhnt, das zuhause zu schauen“, sagt die Dekanin.
Der Fernsehgottesdienst, dein Freund und Helfer
Sie bezweifelt, ob sie und ihre Kollegen diese Christen zurückholen können. Die Fernsehgottesdienste seien inzwischen sehr gut angenommen, weiß sie. Dieses Format, anfangs noch argwöhnisch beobachtet, habe sich für manchen Corona-bedingten Stubenhocker als Rettungsbalken erwiesen. Im Übrigen seien viele TV-Angebote kreativ gedacht und mit beträchtlichem Aufwand hergestellt.
Eine bestimmte Form von präsentem Gottesdienst macht die Ausnahme: „Sobald wir unter offenem Himmel feierten, war der Zuspruch viel größer“, hat sie gelernt. Das stellte sie nicht bei der Landesgartenschau fest, an deren kirchlicher Betreuung sie als Überlinger Pastorin beteiligt war. Auch im Hinterland des evangelischen Kirchenbezirks Überlingen-Stockach kam Open Air stets gut an.
Der Besuch bröckelt seit 1945 ab
Wer in der jüngeren Kirchengeschichte blättert, stößt noch auf einen ganz anderen Trend, der gleichsam die gewaltige Unterströmung bildet für die aktuell beklagte Entwicklung: Nach dem Zweiten Weltkrieg ist der Besuch der Gottesdienste aller Konfessionen nach und nach schwächer geworden, und zwar flächendeckend und konfessionsübergreifend. 1945 suchte noch jedes zweite Mitglied einer Kirche am Sonntag die Kirche auf. Seitdem pendelt dieser Wert stetig nach unten.
„Die Pandemie hat den Abwärtstrend beschleunigt“, schreibt zum Beispiel der Theologe und Journalist Stephan Langer. Den Trend selbst gab es bereits zuvor – völlig unabhängig von der Pandemie. Ein Drittel der Gottesdienstteilnehmer dürfte auch dann nicht zurückkommen, wenn noch die letzte Einschränkung fallen sollte. Dieses geschätzte Drittel bleibt nicht weg, weil sie die Regeln stören, sondern weil Corona den verbleibenden Rest an kirchlicher Nähe auflöste. Etwa wie ein Klebstoff, der nicht mehr klebt und dann zu Boden fällt wie brösliges Material.

Ohne Pfarrer als neues Normal?
Religionssoziologen erklären das mit alten und neuen Normalitäten. „Zum Kirchgang gehört oft auch eine gewisse Gewohnheit“, sagt zum Beispiel Detlef Pollack. Diese Routine im guten Sinne ist durch das Virus unterbrochen worden. Menschen hätten sich deshalb an ein „neues Normal“ gewöhnt – an einen Sonntag ohne leibhaftigen Gottesdienst.
Das bedeutet unter dem Strich aber auch, als dass das alte Normal offenbar verzichtbar war – und offenbar keinen existentiellen Charakter besaß. Menschen, die zum Beispiel gerne ein Konzert oder einen Biergarten besuchen, nehmen diese Gewohnheit nach den ersten Lockerungen des Lockdown sofort wieder auf. Die Aktivität selbst ist ihnen wichtig ist, sie ist stärker als alle Bedenken.
Am besten unter freiem Himmel
Der katholische Pfarrer Thorsten Gompper hat dafür eine nüchterne Erklärung. „Covid bringt etwas ans Licht: Die Bindung weiter Teile unserer Christen ist nicht so ausgeprägt, wie wir dachten.“ Gompper leitet die katholische Seelsorgeeinheit Hohenstoffeln-Hilzingen (Kreis Konstanz) und hat in den vergangenen 18 Monaten jede Menge an Erfahrungen sammeln können. „Freiluft läuft gut“, sagt er. Er verlagerte den Sonntagsgottesdienst am Hauptort Hilzingen nach draußen. Das wurde gut angenommen. In der prächtigen barocken Kirche St. Peter und Paul dürfen regelkonform gerade 38 Menschen sitzen, mehr nicht. Auch das war ein Hindernis: Wer will schon alleine in einer geschnitzten Bank hocken?
Mit Respekt spricht Gompper auch von jenen, die schlicht von der Angst getrieben werden und deshalb das Haus nur verlassen, wenn es nötig ist. „Diese bleiben weg“, sagt er. Ob er sie als Rückkehrer begrüßen kann, bezweifelt er.