Léo Pardo steigt in die Tram. Der dunkelblaue Zug mit den gelben Europa-Sternen schlängelt sich durch Straßburg und saust dann über den Rhein. Seit zehn Jahren verbindet eine Trambrücke die französische Großstadt Straßburg mit der deutschen Kleinstadt Kehl. Vier Millionen Fahrten von Straßburg nach Kehl zählten die Verkehrsbetriebe im ersten Jahr.

Am Kehler Hauptbahnhof steigt Léo Pardo aus. Der 21-Jährige trägt eine schwarze Basecap, die Haare hat er zu einem Dutt zusammengebunden. Neun Bundespolizisten stehen auf dem Bahnsteig, einer hält ein Maschinengewehr vor der Brust. „Ausweis, ID?“ Pardo rollt mit den Augen und kramt in seinem Rucksack.

Kehl und Straßburg – ein Lebensraum

Seit dem 8. Mai kontrolliert die Bundespolizei verschärft an den deutschen Grenzen, auch an der Grenze von Straßburg und Kehl. Die beiden Städte sind so etwas wie das Labor Europas. Mehr als 3000 Kehlerinnen und Kehler haben einen französischen Pass, etwa 4000 Menschen aus Straßburg fahren täglich über den Rhein, um in Kehl zu arbeiten.

In Kehl gibt es eine deutsch-französische Kinderkrippe, eine deutsch-französische Polizeiwache und ein europäisches Verbraucherschutzzentrum. Es gibt gemischte Schulklassen, gemischte Anglervereine, gemischte Familien. Die beiden Städte sind längst zu einem gemeinsamen Lebensraum zusammengewachsen.

Ausgerechnet am 8. Mai geht es los

Am 8. Mai, das muss man wissen, feiert Frankreich jedes Jahr das Ende des Zweiten Weltkrieges. Und so standen an diesem Tag die Bürgermeisterin von Straßburg, Jeanne Barseghian, und der Bürgermeister von Kehl, Wolfram Britz, auf der Fußgängerbrücke über dem Rhein, halb in Deutschland, halb in Frankreich.

Die Straßburger Philharmoniker spielten Beethovens Ode an die Freude. Schülerinnen und Schüler des Kehler Gymnasiums, die sich aufs Abi-Bac vorbereiten, hielten eine Rede. Sie sagten, wie wichtig ihnen die deutsch-französische Freundschaft sei.

Die Bürgermeister richten eine Protestnote an Merz

Ein paar Meter kontrollierte die Bundespolizei die Autos, die nach Deutschland fuhren. Bis zu zwei Stunden dauerte der Grenzübertritt. Die Straßburger Tram geriet aus dem Takt, Regional- und Fernzüge sind bis heute verspätet, weil die Polizisten die Züge stoppen. Man könnte es als fehlendes Fingerspitzengefühl bezeichnen, dass die Kontrollen am 8. Mai begannen. So formulierten es Britz und Barseghian in einer gemeinsamen Protestnote an Kanzler Friedrich Merz. Man könnte aber auch fragen: Berlin, sag mal, geht‘s noch?

Beschwerten sich gemeinsam beim Kanzler: Wolfram Britz (l, parteilos), Oberbürgermeister von Kehl, und Jeanne Barseghian (r, Europe ...
Beschwerten sich gemeinsam beim Kanzler: Wolfram Britz (l, parteilos), Oberbürgermeister von Kehl, und Jeanne Barseghian (r, Europe Écologie-Les Verts), Oberbürgermeisterin von Straßburg. | Bild: Philipp von Ditfurth, dpa

Léo Pardo, der junge Franzose mit der Basecap, hat seinen Ausweis gefunden. Die Polizisten in kugelsicheren Westen werfen einen schnellen Blick drauf, dann lassen sie Pardo passieren. Er geht geradewegs in den nächsten Zigarettenladen, Tabakwaren sind in Deutschland deutlich günstiger als in Frankreich.

Als Pardo wieder draußen ist, sagt er: „Das war ganz klar racial profiling.“ Aus Frankreich sei er rassistische Kontrollen gewöhnt, bei der vor allem schwarze und arabisch aussehende Menschen kontrolliert werden. Doch in Deutschland sei das neu für ihn. Dann steigt er in die Tram und fährt zurück nach Straßburg.

Die Hälfte des Umsatzes machen Franzosen

Wer vom Kehler Bahnhof zum Marktplatz läuft, kommt an Tabakläden, Automatencafés und Shisha-Bars vorbei. In Kehl wohnen Menschen aus mehr als 100 Nationen, jeder dritte Kehler hat einen Migrationshintergrund. Kehl ist weltoffen, bunt und tolerant, steht auf einem Plakat im Fenster des Standesamtes.

Einigen Kehlerinnen und Kehlern ist ihre Stadt mittlerweile wohl zu bunt. Hinter vorgehaltener Hand beschweren sie sich über nächtliche Partys auf der Dönermeile, über Auto-Poser und über zwielichtige Gestalten, die aus Frankreich kommen, um ihr Geld in die Spielautomaten zu schmeißen. Von ihnen sind jetzt weniger da.

Doch auch an ihnen verdient die Stadt, in der der Einzelhandel eine besondere Rolle spielt. Knapp 30 Prozent der Beschäftigen sind in dieser Branche aktiv, weit über Landesschnitt. Die Internetseite der Wirtschaftsförderung Kehl wirbt mit einem Einzelhandelsumsatz von 365 Millionen Euro. Straßburg ist ein satter Standortvorteil für den Kehler Handel. Etwa die Hälfte des Umsatzes kommt von der Kundschaft aus Frankreich. Die dm-Filiale hinter dem Bahnhof ist Jahr für Jahr die umsatzstärkste in Deutschland, wenn man es auf die Quadratmeter umrechnet.

Der Tabakhändler spürt den Kundenrückgang

Eine kleine Umfrage: Die Tabakverkäuferin Inès Sawmynaden, sie spricht Französisch, berichtet von 50 bis 100 Kunden weniger pro Tag. Eine Modehändlerin glaubt nicht, dass weniger Kundinnen aus Straßburg kommen. „Die Französinnen sind geduldig. Das können Sie an der französische Supermarktkassen beobachten.“ Doch ihr Geschäft ist an diesem Nachmittag gespenstisch leer. Der Haushaltswarenhändler Ridvan Algan sagt, dass er am Wochenende etwa 50 Prozent weniger Kunden habe.

Ein paar Hundert Meter weiter kommt Claus Nückles in seinem Zigarrengeschäft noch einmal auf den 8. Mai zu sprechen. „Das war schlimm“, sagt er und meint damit auch den wirtschaftlichen Schaden, der an diesem Tag angerichtet wurde. Normalerweise kommen viele Franzosen am 8. Mai nach Kehl zum Einkaufen, denn in Deutschland sind die Geschäfte geöffnet. Doch die Wartezeit an der Grenze habe das verhindert. „Das Ganze ist einfach eine wahnsinnige Behinderung für uns alle hier. Lange darf es nicht mehr gehen“, sagt Claus Nückles.

Die Kontrollen haben das Leben verändert

Die Buchhändlerin Christina Baumgärtner führt gerade eine Schulklasse durch ihren Laden. In einer ruhigeren Minute denkt sie darüber nach, wie die Kontrollen ihr Leben verändern. „Früher sind wir manchmal zwei oder drei Mal am Tag rübergefahren“, sagt Baumgärtner. Das sei jetzt nicht mehr möglich. Früher brachte sie ihre vier Söhne in die Schule nach Frankreich, traf Freunde zum Mittagessen und war stolz, als einer der Söhne eine französische Freundin hatte.

Aus der Freundin ist mittlerweile eine Ehefrau geworden, die Familie lebt in Frankreich und dieser deutsch-französischen Verbindung werden die Kontrollen nichts anhaben können. Doch allein, dass man nun seinen Pass mitnehmen müsse, verändere etwas, sagt Baumgärtner.

Erinnerung an die Corona-Zeit wird wach

Gert Fieguth trägt Crocs, eine kurze Hose und ein ausgewaschenes T-Shirt. Der Professor an der Hochschule für öffentliche Verwaltung in Kehl kämpft im Garten seines Wohnhauses mit dem Efeu. Fieguth sagt: „Die Kontrollen reißen alte Wunden wieder auf.“ Es sind Wunden, die aus der Corona-Zeit stammen. Damals schloss Berlin die Grenze, was Paris als Akt der Willkür interpretierte.

Aufhebung der Grenzkontrollen während Corona: Auf der Fußgängerbrücke über den Rhein wird gefeiert.
Aufhebung der Grenzkontrollen während Corona: Auf der Fußgängerbrücke über den Rhein wird gefeiert. | Bild: PATRICK HERTZOG, dpa

Das Land Baden-Württemberg setzte noch eins drauf. Es verbot den Franzosen, die zum Arbeiten nach Kehl kamen, in Kehl einzukaufen. Eine französische Krankenschwester durfte also im Kehler Krankenhaus Patienten versorgen, aber sie durfte auf dem Weg zur Arbeit nicht ihr Auto tanken und auch kein Brötchen kaufen.

Europa funktioniert immer dann am besten, wenn es den Menschen einen konkreten Nutzen bringt: Erasmus, Interrail, Schengen, also die Abschaffung der Grenzkontrollen, schrieben eine einzigartige europäische Erfolgsstory. „Wir werden von Menschen auf der ganzen Welt um Schengen beneidet“, sagt Jean Asselborn, der ehemalige Außenministers Luxemburgs.

Die gemeinsame Trambrücke – fast von Berlin verhindert

Auch Fieguth kann ein paar Erfolgsgeschichten erzählen. Die der Trambrücke zum Beispiel. Kehl und Straßburg schrieben sie nach französischem Verfahren aus, Bau und Planung zugleich und zwar mit auf 28 Millionen Euro gedeckelten Kosten. Gekostet hat die Brücke schlussendlich 24,3 Millionen Euro. In Kehl fand man das sensationell, in Straßburg normal, denn in Frankreich gibt es die Praxis, dass Baufirmen mit Nachträgen kommen und am Ende alles teurer wird eher nicht.

Fast hätte Berlin jedoch das Tram-Projekt vereitelt. Annette Lipowsky, die Leiterin des Büros vom Kehler Oberbürgermeister, kann davon berichten. Bevor die Brücke geplant wurde, kontaktierten beide Städte ihre Außenministerien, ob die Brücke nach dem Freiburger Abkommen gebaut werden dürfe. Das ist ein Staatsvertrag, der den Städten dieses Recht einräumt. Paris habe sich gewundert und sinngemäß geantwortet: Ja klar, warum fragt ihr?

Doch in Berlin habe das Verkehrsministerium Einspruch erhoben. Ein Beamter hatte ein Problem in der Übersetzung des Freiburger Abkommens gefunden. In der deutschen Spalte des Textes war von Straßen die Rede, in der französischen Spalte stand „voie publique“ (was öffentliche Fahrspur bedeutet und auch Straßenbahnschienen beinhaltet). Eine deutsche Straße wiederum ist aber keine Straßenbahnschiene, folgerte das Verkehrsministerium. Also sei das Abkommen nicht auf die Trambrücke anzuwenden. Berlin pochte auf einen Nachtrag zum Freiburger Abkommen, der den Bau erlaubte. Erst 22 Monate später gab es grünes Licht. Da hatten die beiden Städte die Planungen längst begonnen.

Der Krankenwagen, der 39 Kilometer zu weit fährt

Berlin und Paris wüssten halt nicht, was die Menschen in der Grenzregion beschäftige, sagt Fieguth. Er erzählt noch eine Geschichte. Ein Bekannter habe einen Herzinfarkt gehabt, und seine Frau habe es nicht hinbekommen, dass der französische Krankenwagen ihn in die Rhéna, die moderne Straßburger Klinik, brachte. Also wurde er nach Offenburg gebracht, später nach Lahr. Der Fahrtweg ins Krankenhaus betrug 40 statt einem Kilometer. Der Mann habe es nicht überlebt.

Wahrscheinlich müssen sie es selbst machen. Kehl und Straßburg könnten einen deutsch-französischen Krankenwagen anschaffen und ein weiteres Symbol der Kooperation schaffen. Nur eines wünschen sich die Menschen hier: Dass Paris und vor allem Berlin ihnen keine Steine in den Weg legen.