Wenn zum Jahreswechsel um Mitternacht die Sektkorken knallen, sind mit einem Schlag die beiden ranghöchsten Topjobs im Polizeipräsidium Konstanz auf vorerst unbestimmte Zeit verwaist. Sowohl Präsident Hubert Wörner als auch sein Vize und Kripochef Thomas Föhr gehen mit 31. Dezember in den Ruhestand.

Der neue, bereits fest stehende Konstanzer Polizeipräsident kann sein Amt aufgrund von Ermittlungen gegen ihn und weitere ranghohe Beamte nicht wie geplant am 1. Januar antreten. Übergangsweise wird Ravensburgs Polizeipräsident Uwe Stürmer das Präsidium in Konstanz für drei Monate leiten.

Der SÜDKURIER hat den scheidenden Konstanzer Polizei-Vizepräsidenten Thomas Föhr wenige Tage vor seinem 63. Geburtstag am 25. Dezember im Constanzer Wirtshaus zum Interview getroffen.

Warum sind Sie vor 43 Jahren Polizist geworden?

Ich war nur mittelmäßig in der Schule und habe anschließend eine dreijährige Ausbildung zum Metallbauer absolviert. Als ich 1981 zur Bundeswehr einberufen wurde, habe ich mich aus einer Laune heraus bei der Bereitschaftspolizei in meiner Heimatstadt Biberach an der Riß gemeldet. Das war die besser bezahlte, angenehmere Option, wobei es damals in der Grundausbildung der Landespolizei noch sehr militärisch zuging. Zur Bundeswehr musste ich dann nicht mehr.

Ihnen gelang nach wenigen Jahren der Wechsel zur Kriminalpolizei, bei der Sie ihr gesamtes Arbeitsleben blieben. Was faszinierte Sie daran?

Mich hat es begeistert, bei Morden, Totschlag und Raubüberfällen eigenständig und im Team zu ermitteln. Von da an habe ich mir nichts anderes mehr vorstellen können. Meine Passion, meine Berufung hatte begonnen.

Welche großen Einsätze und Ermittlungsverfahren haben sich in Ihrer langen Laufbahn ins Gedächtnis eingebrannt?

Da gibt es viele, die einem haften bleiben. Der Tötungsfall Rafael Blumenstock war meine erste Sonderkommission (Soko) bei der Kriminalpolizei Ulm, bei der ich dabei sein durfte. Der junge Mann wurde auf dem Ulmer Münsterplatz brutal getötet. Heute gibt es dort eine Gedenktafel für ihn. Bedauerlicherweise ist der Fall bis heute nicht aufgeklärt, es ist ein Cold Case.

Nehmen Sie solche ungelösten Fälle mit in den Ruhestand?

Nein. Jeder geht damit anders um. Eine hundertprozentige Aufklärungsquote gibt es eben leider nicht.

Welche Einsätze werden Sie niemals mehr vergessen?

Als es 2017 vor der Konstanzer Diskothek Grey eine Amoklage gab, war ich der Abschnittsleiter für die Ermittlungen. Es gab zwei Tote, mehrere Schwerverletzte und einen Polizisten, der einen Kopfschuss erlitt und notoperiert werden musste.

Wie geht es Ihrem damals schwerverletzten Polizeikollegen heute?

Zum Glück ist er völlig genesen und heute wieder im Dienst, ich habe ihn erst vor ein paar Wochen getroffen.

Wie haben Sie die Ermittlungen zum Amoklauf vor der Disko Grey erlebt?

Damals standen wir unter einem enormen Ermittlungsdruck, auch von politischer Seite. Denn zu dieser Zeit gab es einige ähnliche, politisch motivierte Anschläge in Europa. Und wäre die Konstanzer Tat politisch motiviert gewesen, hätte das Landes- oder Bundeskriminalamt in die Ermittlungen einsteigen müssen. Das war nicht der Fall: Der Täter handelte aus einem Streit heraus mit seinem Schwager. Seine Tat war überhaupt nicht politisch motiviert. Gleichzeitig kamen von der Presse und den sozialen Medien sehr schnell Täterinformationen und Bildmaterial an die Öffentlichkeit, die wir erst überprüfen mussten. Da entstand ein hoher Ermittlungsdruck. In so einer Lage interessiert sich auch der Innenminister für die Ermittlungen.

Wird dann wie in TV-Krimis nächtelang durchgearbeitet?

Wenn es sein muss, wird auch die Nacht durchgearbeitet. Wenn für ein Tötungsdelikt eine Sonderkommission eingerichtet wird, ist es eine Selbstverständlichkeit, dass man nicht nach acht oder zehn Stunden heimgeht, sondern da arbeitet man ein, zwei Tage durch. Die ersten 48 Stunden sind einfach entscheidend, um vor die Lage zu kommen, wie wir im Polizeijargon sagen.

Und wenn an Weihnachten ein Tötungsdelikt passiert?

Dann fällt Weihnachten für einige Kolleginnen und Kollegen aus. So war es vor drei Jahren, als am Tag vor dem Heiligen Abend ein 27-Jähriger in Furtwangen seinen Vater erschoss.

Auf welche Erfolge und Misserfolge blicken Sie als Kripochef zurück?

Zwei Tage vor Weihnachten 2021 hatten wir einen großen Rauschgiftzugriff in der Region gegen die organisierte Kriminalität. Am Ende standen fünf Festnahmen und 270 Kilogramm Kokain aus Südamerika zu Buche, die in der Region hätten verteilt werden sollen. Das war ein schöner Erfolg für die ganze Dienststelle.

Weniger erfolgreich liefen jahrelang die Ermittlungen im Tötungsfall Jan Heisig auf der Höri, dessen Leichnam nun vor kurzem im eigenen Garten vergraben gefunden wurde – fünf Jahre nach der Tat.

Schicksalshafterweise war ich im Sommer 2019, als die Tötung geschah, Chef der zunächst zuständigen Kripo in Friedrichshafen. Es schien sich zuerst um einen Vermisstenfall zu handeln, dann bestätigte sich der Verdacht auf ein Tötungsdelikt. Nach der Polizeireform 2020 kam ich als neuer Kripochef nach Rottweil. Heute bin ich sehr froh und glücklich darüber, dass wir uns da einen außergewöhnlich akribischen Kollegen herausgesucht haben, der den Fall nochmals jahrelang analytisch aufgearbeitet hat und weitere Ermittlungsansätze nutzte. Gemeinsam mit vielen anderen Kollegen konnte der Fall aus kriminalpolizeilicher Sicht doch noch gelöst werden.

Polizisten suchen auf der Höri nach dem Leichnam von Jan Heisig.
Polizisten suchen auf der Höri nach dem Leichnam von Jan Heisig. | Bild: Pascal Durain

Verstehen Sie, dass viele Menschen in der Region den Kopf darüber schütteln, dass die Polizei zwar in Krefeld mit einem Bagger graben ließ, den Bodensee mit Tauchern absuchte und die Wälder der Höri mit Hundertschaften durchkämmte, aber niemand den Garten von Jan Heisig in der nötigen Tiefe umgraben ließ – und das, obwohl der Tatverdächtige rund um den Tatzeitpunkt einen Teich dort frisch ausgehoben hatte?

Ich verstehe das Kopfschütteln der Bürger. Wir haben viel unternommen, die Leiche zu finden. 2019 stand im Raum, dass das Bodenseeufer eine Rolle spielt. Wir haben beispielsweise mit Sonarbooten den Seegrund abgesucht und auch Teile des Gartens umgegraben, aber es waren die falschen Stellen. Im Nachhinein zu sagen, hätten wir dies und jenes getan, ist einfach. Für die Grabungen in Krefeld hatten wir konkrete Hinweise und Indizien, die es für jede unserer Ermittlungen braucht. Auch wir als Kripo können nicht alles machen. Umso schöner ist es, dass der Fall zwischenzeitlich beim Landgericht Konstanz angeklagt ist. (Das Urteil gegen den Angeklagten wird für Mitte Februar erwartet, Anm.)

Beim Amoklauf von Winnenden mit 16 Toten im Jahr 2009 Sie als langjähriger Leiter einer Verhandlungsgruppe zusammen mit den Stuttgarter Kollegen vor Ort. Die Verhandlungsgruppen waren für Entführungen, Erpressungen, Geiselnahmen sowie die Betreuung von Opfern zuständig. Was haben Sie in Winnenden erlebt?

Die Eltern standen in der Turnhalle und hofften auf positive Informationen zum Aufenthalt ihrer Kinder. Die Stimmung war erdrückend. Glauben Sie mir: Diese Bilder bekommt man nicht mehr aus dem Kopf, die sind ein Rucksack fürs ganze, spätere Leben.

Haben Sie in solchen Momenten jemals bereut, Polizist geworden zu sein?

Nein. Ich habe gelernt, damit umzugehen. Den Polizeiberuf habe ich ja genau deswegen ergriffen, um die Kriminalität zu bekämpfen und für Sicherheit zu sorgen. Vor die Wahl gestellt, würde ich wieder Polizist werden.

Ist der Polizeiberuf aus Ihrer Sicht der schönste?

Ich weiß nicht, ob er der schönste ist. Aber ich weiß, dass Polizist sein einer der spannendsten und interessantesten Berufe ist.

Wie belastend sind Extremeinsätze wie Winnenden?

Die Spannung und der Stress sind hoch, während des Einsatzes bleibt wenig Raum für belastende Gedanken, die kommen dann im Nachgang. Heute sind psychologische Angebote und psychologische Begleitung für Polizisten und Polizistinnen nach speziellen Einsatzlagen Standard. Ich finde das richtig, hier ist die Polizei heute sehr gut aufgestellt.

Trauernde Schüler und Bürger des Ortes Winnenden stehen nahe der Albertville-Realschule (im Hintergrund) vor zahllosen Blumen und ...
Trauernde Schüler und Bürger des Ortes Winnenden stehen nahe der Albertville-Realschule (im Hintergrund) vor zahllosen Blumen und Grablichtern. Ein 17-jähriger Amokläufer hatte am 11. März 2009 in Winnenden bei Stuttgart fünfzehn Menschen in der Albertville-Realschule und auf seiner Flucht erschossen. | Bild: Boris Roessler

Haben Sie selbst einmal psychologische Hilfe annehmen müssen?

Nein, nie.

Bild 3: Kripochef: „Diese Bilder bekommt man nicht mehr aus dem Kopf, die sind ein Rucksack fürs Leben“
Bild: Polizeipräsidium Konstanz

Sie haben im Polizeipräsidium Konstanz eine eigene Cold Case-Ermittlungsgruppe gegründet. Der Höri-Fall konnte nach fünf Jahren gelöst werden, aber auch ein seit 18 Jahren verschwundener Mann konnte lebend aufgespürt werden, der als tot galt. Welche Erfolge gab es noch oder stehen kurz bevor?

Ich bin sicher, dass noch der eine oder andere Erfolg dazu kommen wird. Wir haben in den letzten Jahren gelernt, dass ein Cold-Case-Fall dann aufklärbar wird, wenn es mit der Opferfamilie wieder Kontakt gibt und alle Akten und Spuren vollständig digitalisiert und zukunftsfest gemacht worden sind. Neue forensische Untersuchungsmethoden und die Künstliche Intelligenz (KI) können in den nächsten Jahren noch vieles möglich machen.

Wird KI künftig Kriminalfälle lösen?

Lösen wohl nicht. Ich hoffe, das bei manchen Kriminalfällen dank KI weitere Hinweise oder Ermittlungsansätze generiert werden könnten. Am KI-Campus in Heilbronn finden auch für die Landespolizei erste Forschungen dazu statt. Zudem darf man die kriminaltechnische Forensik nicht unterschätzen. Als ich bei der Kripo 1986 begonnen habe, hat noch niemand über DNA gesprochen, heute ist sie Standard. Es wird sicher wieder solche Quantensprünge geben. Schon in fünf oder zehn Jahren könnte sehr viel mehr möglich sein.

Thomas Föhr, Vizepräsident des Konstanzer Polizeipräsidiums und Leiter der Kriminalpolizeidirektion Rottweil, geht in den Ruhestand.
Thomas Föhr, Vizepräsident des Konstanzer Polizeipräsidiums und Leiter der Kriminalpolizeidirektion Rottweil, geht in den Ruhestand. | Bild: René Laglstorfer

Was werden Sie im Ruhestand machen?

Meine Tage selbstbestimmt gestalten zu können, ist mit die größte Errungenschaft im Ruhestand. Ich segle gern und habe alle Segelpatente, bin aber zuletzt nicht mehr dazugekommen. Dann will ich endlich wieder mal mehr Bücher lesen. Und Reisen steht auf dem Programm. Meine Frau und ich haben einen Hund aus einer Tötungsstation in Portugal. Wir überlegen uns gerade, ob wir uns in der Galgorettung ehrenamtlich engagieren. Das sind Windhunde vorwiegend aus Spanien, die für die Jagd gehalten, und zum Teil sehr schlecht behandelt und ausgesetzt werden. Mal schauen, für was sie dort einen Kriminaldirektor brauchen können (lacht).