Herr Lucha, am 1. März hat Baden-Württemberg alle Corona-Verordnungen aufgehoben. Mit welchem Gefühl sind Sie an diesem Morgen aufgewacht?
Mit demselben Gefühl wie am Tag davor. Da wir in den vergangenen drei Jahren jeden Tag darauf hingearbeitet haben, war das jetzt tatsächlich nur der Vollzug der letzten administrativen Tätigkeit. Was schön war, war noch einmal die Abstimmung im Kreis der Länderkolleginnen und -kollegen und mit Bundesminister Lauterbach – und dass es uns gelungen ist, in den letzten Verordnungsüberlegungen wieder gemeinsam und zeitgleich zu agieren.
Haben Sie keine Erleichterung gespürt?
Erleichterung hat sich schon früher eingestellt, als wir Hinweise hatten, dass die Pandemie und die Schwere der Infektionswelle tatsächlich zurückgedrängt wird und innerhalb der Bevölkerung eine hohe Immunität aufgebaut werden konnte. Das war keine Tageserleichterung. Es ging ja immer darum zu verhindern, dass viele Menschen so schwer erkranken, dass sie sterben müssen, ohne dass die Medizin das verhindern konnte. Das Bewusstsein, das jetzt schon länger im Griff zu haben, ist sicher für uns alle motivierend gewesen.
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach hat im Nachgang einige Maßnahmen als völlig übertrieben bezeichnet. Gibt es eine Maßnahme, von der Sie sagen: Das war ein großer Fehler?
Ich hätte das nicht so gesagt wie Professor Lauterbach, zumal er über weite Strecken der Pandemie ja auch als Oppositionspolitiker, der er damals noch war, von uns immer maximal enge und strenge Vorgaben eingefordert hat. Wenn wir mal von den Verordnungen her denken: Da wurde nur ein kleiner Prozentsatz von den Gerichten gekippt, und das betraf auch nicht den Kern der Verordnungen. Diese hatten immer das Ziel, Menschen zu schützen, Infektionen zu unterbinden und abzugrenzen. Darauf waren wir, um die Verbreitung des Virus einzudämmen, vor allem am Anfang angewiesen, als es noch keinen Impfstoff gab und auch keine Immunität.

Natürlich würde ich mit dem Wissen von heute Impftermine nicht mehr auf die Telefonnummer 116 117 legen. Und natürlich wissen wir heute, was die Schul- und Kita-Schließungen für bittere Folgen hatten und dass wir darauf nicht vorbereitet waren. Aber mit dem damaligen Wissen um die hohe Ansteckungsgefahr musste man schlicht und einfach die Mobilität der Menschen eingrenzen. Und unter Kindern gab es eben die höchste Mobilität.
Also alles richtig gemacht?
Kein Mensch macht immer alles richtig. Aber viele vergessen heute die Ausgangslage, die wir damals hatten: Die Bilder aus Bergamo und China, die Vorgänge in Krankenhäusern, als Menschen kalt triagiert wurden. Wir hatten da nur die Vorgaben: Schutz stärken, Versorgung stärken, Infektionen verhindern. Das waren die drei Ziele, die auch unsere Wissenschaftler und Infektiologen und das Robert Koch-Institut ausgegeben haben. Wir haben jeden Tag aus dem geschöpft, was uns an Erkenntnissen zur Verfügung gestellt wurde.
Insofern reicht es nicht aus, zu sagen: Mit dem Wissen von heute bin ich auch gescheiter. Wir müssen vielmehr daraus die richtigen Schlüsse ziehen. Zum Beispiel, dass wir, wenn solche Extrembelastungen wieder kommen, auf keinen Fall wieder Schulen und Bildungseinrichtungen schließen dürfen. Auch wenn es stärkere Infektionsherde geben sollte.
Die Isolation der Menschen in den Alten- und Pflegeeinrichtungen war auch kein Fehler?
Was heißt denn Fehler? Wenn man sich die Übersterblichkeit der ersten Monate anschaut, gab es die meisten Verstorbenen in den Altenhilfeeinrichtungen – bevor es die Schutzmaßnahmen gab. Wir konnten damals gar nicht anders, als so zu entscheiden, um keine weiteren Infektionen in die Einrichtungen zu tragen. Die meisten Menschen dort hatten keine Immunität.
Und man muss auch sagen: Die Menschen haben zwar keinen Kontakt zu ihren Angehörigen gehabt, aber das Personal hat überall sehr viel geleistet, um der Isolation entgegenzuwirken. Aber ja: Heute würde ich alles daransetzen, damit die Menschen den sozialen Kontakt aufrechterhalten können.
Sie haben gerade die Hotline erwähnt. In dem Chaos gerieten Sie selbst auch massiv unter Druck. Haben Sie daran gedacht zurückzutreten?
Nein.
Wie groß war der Druck von außen?
Wir waren in der Situation, dass verzweifelte Menschen von über 80 Jahren überlegt haben, ob sie noch weitere Jahre Lebensqualität haben können oder sich morgen infizieren, weil sie keinen Impfstoff bekommen. Da brauche ich keinen Druck von außen. Das war eine Notsituation, mit der Sie ins Bett gehen, nicht schlafen können und aufstehen mit der Frage, wie Sie das besser machen können. Es gab zu wenig Impfstoff, und die Hotline war in dieser Form nicht das vertrauenerweckende Mittel, um den Menschen mitzuteilen, wann sie mit der Impfung dran sind.

Ein anderes Verfahren hätte an dem Impfstoffmangel zwar nichts geändert, aber die Menschen wären nicht so angstvoll und verärgert gewesen. Wenn Sie 30 Mal ohne Erfolg versuchen, an einen Termin zu kommen, ist die Verärgerung verständlich. Ich bin sehr froh, dass wir jetzt das technische Know-how haben, um ein funktionsfähiges Portal zur Verfügung zu stellen. Was ich gelernt habe: Sich hierbei auf Dritte und Dienstleister zu verlassen, hat in diesem Fall nicht funktioniert.
Andere Gesundheitsminister in den Ländern mussten zum Teil gehen. Konnten Sie in dieser Zeit immer davon ausgehen, dass Sie noch den Rückhalt des Ministerpräsidenten haben?
Wenn Sie so denken und um das Amt fürchten, können Sie diesen Job nicht machen. Sie brauchen einen klaren Kopf, müssen ansprechbar und korrigierbar sein. Da können Sie nicht permanent daran denken, ob Sie das jetzt den Job kostet oder nicht. Unsere Ämter werden von den Bürgerinnen und Bürgern verliehen, und wir müssen sie bestmöglich ausüben. Unser Ministerpräsident ist in Krisenzeiten mit seiner Mischung aus Klarheit, Besonnenheit und Belastbarkeit, nach innen kritisch und nach außen mit klarem Kompass, der größte Segen, den ein Land haben kann. Und er neigt nicht dazu, sich von Tagesströmungen sofort durcheinander bringen zu lassen.
Es waren ja nicht nur Tagesströmungen, denen Sie ausgesetzt waren. Wiederholt wurde Ihr Rücktritt gefordert.
Das gehört zum Geschäft. In diesem Job muss einer alles, was schwierig ist, bündeln, und das ist richtig so. Ein Minister muss sich verantwortlich vor die Kolleginnen und Kollegen stellen. Und es geht ja letztlich überhaupt nicht um einen Minister. Es geht um zigtausende Menschen in Kliniken und Arztpraxen, die sich gemeinsam mit uns unzählige Tage und Nächte um die Ohren geschlagen haben, um diese Infektionen halbwegs in den Griff zu bekommen. Die standen eigentlich immer unter Beschuss, wenn etwas nicht funktioniert hat.
Wir sind ja nur die Exekutive, sozusagen das Außenministerium für gemeinsam erarbeitete Beschlüsse – und wir übernehmen Verantwortung. Sonst braucht es keine Chefinnen und Chefs. Ich habe mich vor meine Leute gestellt, und das, zusammen mit einem außergewöhnlich guten Team, hat mich sicher auch bewogen durchzuhalten, weil ich wusste: Einer muss für sie da sein.
Was hat die Pandemie mit Ihnen persönlich gemacht?
Ich bin gefühlt doppelt so alt geworden in diesen drei Jahren. Aber ich habe gelernt, mich noch mehr aufs Wesentliche zu konzentrieren, kooperative Ablaufstrukturen zu nutzen, offene, kritische Kommunikation zu pflegen und am Ende die richtigen Entscheidungen zu treffen und sich dazu zu bekennen. Und darüber hinaus muss jeder von uns gesundheitlich das für sich tun, was er tun kann. Vielleicht ist das auch ein Ergebnis aus der Krise, dass viele Menschen gelernt haben, gesundheitlich ein bisschen mehr auf sich zu schauen. Ich mache mir jeden Tag klar, dass man auch da nicht schlampern darf.