Manches Mal tut Kunst richtig weh – dem Betrachter wie auch dem betrachteten Werk. Bei der Aufstellung der neuen Skulptur von Peter Lenk vor dem Stuttgarter Stadtpalais stellte sich so ein Schmerzensmoment ein.
Ein Mitarbeiter machte sich an der Hauptfigur zu schaffen: Sie zeigt den nackten Laokoon, der Winfried Kretschmann verblüffend ähnlich sieht. Das Feigenblatt vor der empfindlichsten Stelle des Mannes hatte sich gelockert, also musste das Loch für die Bohrung vertieft werden, bevor das Blättchen wieder das mythische Gemächt bedecken kann.
„Ich mache doch keine Kleiderständer“, sagt Lenk
Diese Momentaufnahme steht fürs große Ganze. Im Schwäbischen Laokoon – so heißt das Werk – mit seinen etwa 150 Figuren spielt Nacktheit eine zentrale Rolle. „Ich mache doch keine Kleiderständer“, sagt Peter Lenk im Gespräch mit dem SÜDKURIER. Nicht nur der Kretschmann-Laokoon, sondern viele andere Weibs- und Mannsbilder stellt er unverblümt dar.

Will sagen: Die Politik hat sich nackt gemacht, sie stellt sich mit ihrer falschen Handlungsweise bloß. Für Peter Lenk aus Bodman-Ludwigshafen steht das Bahnprojekt Stuttgart 21 für eine der größten technischen Dummheiten des Jahrhunderts. Diese Meinung fasst der 73-Jährige in verschiedene Tableaus: In der Mitte verschlingt sich der Priester Laokoon mit einem gewundenen ICE-Wagen.
Die Baugrube wird zum Schwimmbecken
In den senkrechten Reliefs wird das Thema des gescheiterten Riesenprojekts dann szenisch aufgefächert. Man sieht die ersten Grabungen für den geplanten Tunnel inklusive Heiliger Barbara, doch wird die Zeremonie von einem Trupp von nackten Chaoten gestört.
Noch deutlicher wird S21-Kritiker Lenk beim nächsten Relief: Das Grundwasser drückt nach oben und setzt das Baugelände unter Wasser. Fröhliche Badenixen steigen in die Fluten. Vergessen ist das Verkehrsprojekt, aus und vorbei. Der Bildhauer vom Bodensee macht aus seiner Gegnerschaft zu S21 keinen Hehl.

Damit hat er einen Nerv getroffen. Seit er vor zwei Jahren mit den ersten Arbeiten begann, wurde er von einem Kreis von Unterstützern begleitet. Darunter auch Edzard Reuter, dem ehemaligen Daimlerchef, sowie viele Montagsdemonstranten. So kamen mehr als 130.000 Euro zusammen, um das zehn Tonnen schwere Werk zu finanzieren. Das reicht, um die Materialkosten zu decken.
Firmen schenken ihm ihre Arbeit
Dazu kommen Firmen, die ihm ihre Dienste teils schenken oder weniger berechnen. Etwa der Unternehmer Oskar Broziat (Singen), er transportierte die vielen Teile vom Bodensee an den unteren Neckar, ohne einen Cent zu berechnen. Dazu kommen der Stahlbauer Rettich (Bodman-Ludwigshafen), die Kunstschmiede Kink (Pfullendorf) oder das Statikbüro Nitsche (Konstanz). Lenk ist auch Handwerker – und mit seiner Originalität schafft er es immer wieder, andere und dabei sehr stille Handwerker um sich zu scharen.

Am Morgen nach der nächtlichen Aufstellung war Lenk sichtlich erschöpft. Was ihn motiviert? „Freiheit oder Stundenlohn“, sagt er. Er habe sich für die Freiheit der Kunst und für 3000 Arbeitsstunden entschieden, die bisher unbezahlt seien.
Den Selfie-Test hat das Werk bereits bestanden
Was ihn an diesem Morgen beflügelt, ist die überwiegende Sympathie , die sein zum Monströsen neigende Opus erntet. Stuttgarter und Besucher von außen sammeln sich vor dem vielfigurigen Kosmos. „Wer das wohl ist?“, fragen die einen. „Des isch d‘r Mappus“, sagt ein gewiefter Einheimischer. D‘r Mappus, also Ex-Ministerpräsident Stefan Mappus, ist unverkennbar, selbstgefällig blickt er auf den Platz hinunter.
Den Selfie-Test hat der Schwäbische Laokoon bereits am ersten Tag bestanden. Bewunderer und Skeptiker knipsen und packen sich mit dem athletischen Laokoon auf ein gemeinsames Bild.
Winfried Kretschmann wusste vorab, dass er in diesem Kunstwerk eine Rolle spielen würde. Man ließ ihm die Information zukommen, berichtet Lenk. Auch wenn das Gesicht des Laokoon-Winfried schmerzhaft verzerrt ist, weil die ICE-Schlange auf ihn drückt, ist er immerhin die Hauptfigur.
Und wie bewertet Kretschmann das Kunstwerk jetzt? „Ich finde, meine Haltung ist richtig getroffen, auch wenn ich nicht in sämtlichen Details korrekt dargestellt werde: Ich wollte Stuttgart 21 nicht, aber nachdem der Volksentscheid mehrheitlich für den Weiterbau ausging, mussten wir es bauen“, lässt der Ministerpräsident wissen. „Richtigerweise hat Peter Lenk mich nicht bei den feixenden kleineren Gestalten seines Kunstwerks eingereiht, sondern mit mürrischem Blick ausgestattet“, so Kretschmann.
Ein Theater der Zwerge und Gnomen
Andere Darsteller des Figurentheaters sind dagegen auffällig zwergenhaft dargestellt – in der Formensprache eines ihres Schöpfers Lenk ist das Ausdruck von Verachtung. Die Menschen, die er für die größten Wichtigtuer hält, macht er am kleinsten, verdruckste Gnome oder ein bleckender Günter Oettinger.

Erst allmählich gewöhnt sich das Auge an dieses Panoptikum und kann die einzelnen Akteure unterscheiden. Eines verbindet sie: Sie waren vor einem Jahrzehnt glühende Verfechter des Tiefbahnhofs. Zum Beispiel die Kanzlerin. Angela Merkel steckt in einem Strampelanzug mit Bundesadler, die Hände verschränkt sie hinter dem Rücken.
Heiner Geißler, der damals als Schlichter des umstrittenen Vorhabens auftrat, trägt bereits Engelflügel – Hinweis auf seine weise Haltung und auf die Tatsache, dass er nicht mehr lebt. Seine Gesichtszüge sind fein ausgearbeitet.
Über allem thront Erwin Teufel mit Händen, die zum Beten gefaltet sind. Er zählt zur Handvoll von Politikern, ohne die man in Stuttgart und bei der Bahn nicht an das ehrgeizige Projekt gegangen wäre. Und er ist ein Lieblingsmotiv von Lenk.
Urteile von „respektlos“ bis „fantastisch“
Die teils drastischen Darstellungen finden ein geteiltes Echo. „Mit den vielen Nackten da kann ich nichts anfangen. Mir fehlt der Respekt“, sagt Viktor Neumann aus Nordrhein-Westfalen.
Doch jene Einheimischen, die bei Stuttgart 21 schon immer ein mulmiges Gefühl hatten, sind begeistert. „Ich finde es fantastisch“, meint Michaela Briggs und schwärmt für die dreidimensionale Karikatur. Und Ulli Fetzer findet es „schlicht genial“ – er zählt zu den 780 Sponsoren.

Der Standort beschert dem neuen Lenkmal ohnehin genug Publikum. Der Schwäbische Laokoon steht vor dem Stadtpalais genannten alten Bau, in dem bis zum Ende der Monarchie in Württemberg der König Wilhelm II. residierte. Es ist ein viel begangener öffentlicher Raum, man kommt also kaum an Peter Lenk vorbei.
Im Schatten seiner zehn Meter aufragenden Großplastik fristet eine unscheinbare Bronzegruppe eine Schattendasein, sie stellt den letzten König mit seinen beiden Spitzen dar. „Jetzt stehen zwei Könige vor dem Palais“, witzelt Lenk.
Fritz Kuhn wollte von der Plastik nichts wissen
Ob sich sein Laokoon in einem Jahr noch drehen und winden darf, ist offen. Bisher genießt er ein Standrecht bis März 2021. Dass Lenk und seine vielen Helfer aufbauen durften, verdanken sie auch der Grünen-Politikerin Veronika Kienzle. Sie hatte sich für den Standort eingesetzt. „Das Werk gehört nach Stuttgart und nicht an den Bodensee„, sagt sie im Gespräch. Kienzle kandidiert auch für das OB-Amt in der Landeshauptstadt.

Und der amtierende Oberbürgermeister? Fritz Kuhn habe ihn nicht unterstützt, berichtet Lenk leicht gekränkt. „Der will nur noch einen unbeschwerten Abgang“, grollt er. Im Gegenzug hat er ihn auf einem der Reliefs mit extra abstehenden Ohren dargestellt. Und klein.
Seine Frau ist froh, dass alles fertig ist
Nach dem Trubel wird er eine Pause einlegen. Seine Frau Bettina sagt: „Ich bin froh, dass es fertig ist.“ In den letzten Monaten habe ihr Mann auch die Sonntage durchgearbeitet. Ständig kamen neue Figuren dazu. So wuchs sein landespolitischer Kosmos immer weiter. Natürlich hat er schon eine Idee für seine nächste Arbeit. Doch macht er sich im nahenden Winter erst einmal an seine Memoiren. Die ersten Seiten hat er schon zu Papier gebracht.