Wie überall in Europa sind auch in der Schweiz Mitte Juni Menschen auf die Straßen gegangen, um gegen Rassismus zu demonstrieren. Doch neben Gruppen, die „Black Lives Matter„-Plakate in die Höhe hielten, formierten sich in den eidgenössischen Städten am 13. und 14. Juni auch mehrere tausend Frauen.
Mit Trillerpfeifen und lila- oder pinkfarbenen Plakaten zogen sie durch die Straßen und erinnerten an den ersten Jahrestag des Frauenstreiks sowie an ihre damaligen Forderungen: „Respekt, mehr Lohn, mehr Zeit!“
Am 14. Juni 2019 hatten mehr als eine halbe Million Frauen ihre bezahlte und unbezahlte Arbeit niedergelegt, um für ihre Rechte zu protestieren – rund dreißig Jahre nach dem ersten Schweizer Frauenstreik 1991.

Vergangenes Wochenende waren zwar deutlich weniger Protestierende unterwegs als noch vor einem Jahr. Erstaunlich ist aber, dass es jetzt nur zwölf Monate gedauert hat, bis sich Frauen wieder schweizweit zu Protesten versammelt haben. Liegt es daran, dass der 14. Juni diesmal auf einen Sonntag fiel oder erlebt die Schweizer Frauenbewegung gerade einen nie gekannten Höhenflug?
Die Erfolgsfaktoren: Basisdemokratie, Gewerkschaften, klare Forderungen
„Es gab in der Frauenbewegung immer ein Auf und Ab. In den letzten Jahren ist sie wieder erstarkt, nicht nur in der Schweiz„, sagt Gesine Fuchs, Politikwissenschaftlerin und Privatdozentin aus Luzern. Eine neue Generation von Feministinnen habe sich etabliert. „Die jungen Frauen verfügen über ein großes Selbstbewusstsein, was auch als Verdienst der früheren Frauenbewegung gesehen werden muss.“

Junge Feministinnen organisierten sich anders, nutzten andere Kommunikationsformen und -wege. Das habe durchaus zum Erfolg des Frauenstreiks vor einem Jahr beigetragen, erklärt Fuchs. Die Politikwissenschaftlerin sieht aber auch viele Parallelen zum ersten Streik von 1991: „Wie damals haben 2019 zahllose Frauenkollektive zusammengefunden und den Streik gemeinsam mit dem Schweizerischen Gewerkschaftsbund (SGB) organisiert.“
Der SGB sei ein wichtiger Eckpfeiler des Protests gewesen, indem er Material, Infrastruktur und Geld zur Verfügung gestellt sowie in den eigenen Kreisen für den Streik geworben habe.
„Das zentrale Kriterium für den Erfolg ist bei sozialen Bewegungen aber immer die Frage: Kann man Leute unter einer gemeinsamen Zielrichtung vereinen?“, betont Fuchs.
Das sei den Streikorganisatorinnen gelungen, indem sie übergreifende Themen und Forderungen aufgriffen, zu denen sich Frauen unterschiedlichen Alters und aus verschiedenen sozialen Milieus bekennen können wie „gleicher Lohn für gleiche und gleichwertige Arbeit“ oder die Anerkennung nicht bezahlter Arbeit in der Familie oder für die Gesellschaft.

„Gleichzeitig war der Streik basisdemokratisch organisiert, wodurch die Proteste an die Probleme und die Bedürfnisse vor Ort angepasst werden konnten, beispielsweise war bei den Protesten im ländlichen Raum die Situation der Bäuerinnen ein wichtiges Thema.“
42 Prozent Frauenanteil im Parlament: Eine Folge des Frauenstreiks?
Wenige Monate nach dem großen Frauenstreik 2019 wurde in der Schweiz das nationale Parlament neu gewählt. Dabei kam es zu einer nie dagewesenen Neuverteilung der Geschlechterverhältnisse: In der großen Parlamentskammer, dem Nationalrat, erhöhte sich der Frauenanteil von 32 auf 42 Prozent. Zum Vergleich: Im Deutschen Bundestag lag dieser Wert 2019 bei 31,2 Prozent und damit rund sechs Prozentpunkte niedriger als noch 2013.
Für Fuchs ist klar, dass der Frauenstreik zu diesem Wahlerfolg maßgeblich beigetragen hat: „In der Geschichte kam es immer wieder zu solch mobilisierenden Ereignissen, an denen die Leute ihre Wahlentscheidung ausgerichtet und sich zum Beispiel bewusst für Frauen entschieden haben.“
Wie steht es um die Gleichstellung der Geschlechter in der Schweiz?
Doch hat der höhere Frauenanteil in der Schweizer Politik auch tatsächlich Folgen? Für eine Bilanz sei es zwar noch zu früh, betont Fuchs: „Aber Beispiele kantonaler Parlamente zeigen, dass auf einmal Vorstöße mit zentralen Forderungen der Frauenbewegung erfolgreich waren, nachdem sich der Frauenanteil erhöht hatte.“
Erste Auswirkungen könnte die höhere Repräsentation von Frauen im nationalen Parlament etwa bei der von zahlreichen Frauenverbänden und Nichtregierungsorganisationen geforderten Reform des Sexualstrafrechts haben, denkt Fuchs.
Warum kennt Deutschland keine vergleichbare, bundesweite Protestbewegung?
Fuchs hat zwei Thesen, warum dies nicht gelingt: „Erstens könnte es schlicht daran liegen, dass es einfacher ist, einen landesweiten Streik in einem Land mit einer Bevölkerung von nur acht Millionen Personen zu organisieren, in dem Interessensgruppen auch über Sprach- und Kantonsgrenzen hinweg gut vernetzt sind.“
Zum anderen habe sich in der Schweiz gezeigt, dass für einen so großen Streik die Unterstützung der Gewerkschaften entscheidend sei: „Deshalb könnte auch ein zurückhaltendes Engagement des Deutschen Gewerkschaftsbundes ausschlaggebend sein, dass es in Deutschland bisher keine vergleichbar hohe Mobilisierung beim Frauenstreik gab.“