Es waren dramatische Szenen, die eine Anwohnerin am 14. Dezember von ihrem Balkon aus filmte und die bald viral gingen: Gegen 15 Uhr zerrte eine Gruppe drei Männer am Singener Friedrich-Ebert-Platz aus deren Fahrzeug und attackiert sie brutal, zum Teil mit Messern. Vorbeikommende Autofahrer versuchten die Angreifer mit lautem Hupen und „Aufhören!“-Schreien zu stoppen – ohne Erfolg.

Die Attacke im Video Video: Privat/SÜDKURIER

Bei dem Angriff sollen acht Männer, die zur Tatzeit 20 bis 38 Jahre alt waren und seither alle in Untersuchungshaft sitzen, laut Landgericht Konstanz „in Kauf genommen haben“, dass eines der drei Opfer, der 42-jährige Mizr A., aufgrund der ihm zugefügten Verletzungen zu Tode kommt. „Ich habe Glück gehabt, die Engel haben mich beschützt. Ich sage jeden Tag Danke, dass ich noch lebe, aber wie lange noch, weiß ich nicht“, sagt A. im Gespräch mit dem SÜDKURIER. Er gibt an, nach wie vor Morddrohungen aus den Reihen der mutmaßlichen Angreiferfamilie aus dem Landkreis Konstanz zu erhalten, die Polizei sei darüber informiert.

Anklage wegen versuchten Totschlags

Eine sechsstündige Notoperation hatte dem 42-Jährigen nach der Messerattacke im Dezember das Leben gerettet, zwei weitere Operationen im Februar und März folgten. „Es geht mir schlecht, ich mache eine Therapie bei einer Psychologin. Eine Operation steht noch an“, sagt A. Die Anklage der Staatsanwaltschaft Konstanz gegen acht Mitglieder einer syrischen Großfamilie lautet auf versuchten Totschlag, gefährliche Körperverletzung und Sachbeschädigung.

Mizr A.wurde bei der Messerattacke im Dezember 2020 in Singen lebensgefährlich verletzt.
Mizr A.wurde bei der Messerattacke im Dezember 2020 in Singen lebensgefährlich verletzt. | Bild: Mizr A.

Der Prozess gegen die mutmaßlichen Angreifer wird ab 13. September nicht am Konstanzer Landgericht, sondern voraussichtlich im Justiz- und Strafvollzugskomplex im Stuttgarter Stadtteil Stammheim über die Bühne gehen. „Wir hoffen, dass es in Stammheim klappt, da das Oberlandesgericht den Saal noch für sich selbst in Anspruch nehmen könnte, wenn ein anderes Großverfahren ansteht. Das ist eine missliche Situation“, sagt Mirja Poenig, Richterin und Sprecherin am Landgericht Konstanz.

In Stammheim wurde bereits deutsche Justizgeschichte geschrieben, von den Prozessen gegen Mitglieder der türkisch-nationalistischen „Osmanen Germania“ bis hin zu jenen gegen die linksextreme Terrororganisation „Rote Armee Fraktion“ (RAF) und der „Todesnacht“ von drei ihrer Anführer. Nun also soll dort die Singener Messerattacke verhandelt werden. „Ich bin froh über den Prozessbeginn am 13. September, werde als Zeuge aussagen und vertraue auf den deutschen Rechtsstaat“, sagt der Hauptgeschädigte A.

Größte Verhandlung seit Mafia-Prozess

Fest steht bereits jetzt: Es wird die größte Verhandlung des Konstanzer Landgerichts seit dem Mafia-Prozess von 2018 bis 2019, der in der alten Kantine des ehemaligen Siemens-Areals stattfand, eineinhalb Jahre dauerte und Verurteilungen gegen elf Männer überwiegend aus dem Schwarzwald brachte – der SÜDKURIER berichtete.

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Offiziell soll deshalb nach Stuttgart-Stammheim ausgewichen werden, weil am Landgericht Konstanz „keine ausreichend großen Sitzungssäle verfügbar“ sind für ein Verfahren dieser Größenordnung mit acht Angeklagten und 16 Verteidigern. Allerdings dürften für die Ortswahl auch die „Sicherheitsvorkehrungen“ eine Rolle spielen, wie es heißt.

Ermittlungen wegen IS-Hintergrund

Wie der SÜDKURIER herausfinden konnte, haben sich die Mitglieder der beiden syrischen Großfamilien „gegenseitig bezichtigt“, Mitglieder der Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) zu sein, beziehungsweise mit ihr zu tun zu haben, sagt Andreas Mathy, Sprecher der Staatsanwaltschaft Konstanz. Auf Anfrage bestätigt ein Sprecher der Generalstaatsanwaltschaft Stuttgart dem SÜDKURIER, dass sie „gegen zwei Personen aus der Tätergruppe wegen mutmaßlicher Mitgliedschaft beziehungsweise Unterstützung des IS in Syrien ermittelt“.

Andreas Mathy, Sprecher der Staatsanwaltschaft Konstanz.
Andreas Mathy, Sprecher der Staatsanwaltschaft Konstanz. | Bild: Oliver Hanser

Die Ermittlungen liefen aber noch. Im Falle einer Anklage hätten sie ein eigenes Verfahren vor dem Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts zur Folge. Verfahren vor diesem Senat finden für gewöhnlich in eben jenem Hochsicherheitssaal in Stammheim statt, den das Landgericht Konstanz nun nutzen will. „Wenn in Stuttgart ermittelt wird bei solchen Vorwürfen, dann wird man eher zu viel als zu wenig ermitteln“, sagt Mathy von der Staatsanwaltschaft Konstanz.

Was war der Auslöser für den Zwist?

Doch warum gerieten die beiden syrischen Großfamilien überhaupt so aneinander, obwohl sie aus derselben Stadt, Mohassan im Osten Syriens, stammen und sogar weitläufig miteinander verwandt sein sollen?

Alles dürfte im Jahr 2018 mit einer Aussage des späteren Hauptopfers Mizr A. bei den Behörden begonnen haben, dass einzelne Mitglieder der mutmaßlichen Täterfamilie den IS in Syrien unterstützen sollen. „Sie haben herausgefunden, dass ich ausgesagt habe, und mich seither viele Male bedroht. Sie wollten mich zum Schweigen bringen“, sagt A.

Ungeborenes schwebte in Lebensgefahr

Niemals vergessen werde er einen Vorfall im September 2018, als er mit seiner hochschwangeren Frau auf dem Weg ins Krankenhaus war und von einem silbernen Mazda absichtlich ausgebremst wurde. „Durch die Notbremsung brach sich meine Frau drei Rippen, unser ungeborenes Kind schwebte in Lebensgefahr. Ich habe seit Jahren Anzeigen gegen diese Familie gemacht, aber sie wurden immer eingestellt.“

Bis zum 14. Dezember 2020. A. war mit zwei Verwandten in seinem VW-Bus in der Singener Südstadt unterwegs, als bei einer auf Rot stehenden Ampel am Friedrich-Ebert-Platz plötzlich ein silberner Mazda scharf abbremste. Mehrere Männer sprangen heraus und schlugen auf die Fensterscheiben des VW-Buses ein.

So sah der Kleinbus nach der Attacke aus, sagt das mutmaßliche Opfer, Mizr A. Mit dem Bild will er seine Vorwürfe vor Gericht untermauern.
So sah der Kleinbus nach der Attacke aus, sagt das mutmaßliche Opfer, Mizr A. Mit dem Bild will er seine Vorwürfe vor Gericht untermauern. | Bild: Mizr A.

„Das sind Leute aus dem Krieg“

„Einer hat mich gepackt, meine Oberschenkel mit dem Messer traktiert und dabei gesagt, dass er mir die Männlichkeit nehmen wolle. Man darf nicht vergessen, diese Leute kommen aus dem Krieg und haben keinen Respekt vor den Gesetzen“, sagt der 42-Jährige. Mehrere Männer sollen auch auf seinen Kopf eingeschlagen haben, wie Narben bis heute zeigten.

Noch im Krankenhaus sollen die Behörden A. und seiner engsten Familie Personenbewachung durch den Staatsschutz angeboten haben – später auch, sie in ein Opferschutzprogramm aufzunehmen und in ein anderes Bundesland umzusiedeln. „Aber ich habe beides abgelehnt. Ich habe eine große Familie hier, habe im Landkreis Konstanz Fußball gespielt und meine Freunde hier. Ich will nicht weg und das wäre auch das falsche Signal“, sagt der sechsfache Vater.

Blutspuren im Kleinbus des Opfers. Das Bild hat das mutmaßliche Opfer dem SÜDKURIER zur Verfügung gestellt, um seine Vorwürfe zu ...
Blutspuren im Kleinbus des Opfers. Das Bild hat das mutmaßliche Opfer dem SÜDKURIER zur Verfügung gestellt, um seine Vorwürfe zu untermauern. | Bild: Mizr A.

Urteil könnte im Oktober fallen

Für sich und seine Familie wolle er diese Mentalität aus Syrien nicht, dass man, wenn man geschlagen wird, einfach zurückschlägt. „Ich lebe seit 21 Jahren in Deutschland und ich will eine gute Zukunft für meine Kinder. Meine Familie vertraut auf die deutschen Gesetze, wir wollen auch ein demokratisches Syrien.“

A. hofft mit dem Prozess gegen seine mutmaßlichen Angreifer auf Gerechtigkeit und auf ein abschreckendes Urteil. „Nicht wegen meiner Familie, sondern es geht um tausend andere. Wenn die nach sechs Monaten wieder rauskommen, dann machen sie, was sie wollen. Wenn es eine harte Strafe von einem starken Staat gibt, dann schreckt das viele andere ab.“

Acht Verhandlungstage sind ab 13. September in Stuttgart-Stammheim anberaumt, ein Urteil könnte am 11. oder 13. Oktober fallen. Für die acht Angeklagten gilt die Unschuldsvermutung.