Nihad P. verbirgt den Schmerz, der seit über einem halben Jahr seinen Alltag beherrscht. Dass er heute noch massiv unter den Folgen des Überfalls auf seine Konstanzer Dönerbude leidet, ist ihm unangenehm. Anfangs wirkt der Zeuge vor dem Konstanzer Landgericht noch gefasst. Der Gastronom erinnert sich so gut er kann an den 9. Juni 2020 – eine Nacht, die sein Leben verändern wird.

Als der Gastronom nach einem Schuss aus einer Pistole gefragt wird, der auf ihn abgegeben worden sein soll, löst sich seine unsichtbare Mauer in Luft auf. Dem vierfachen Familienvater laufen die Tränen in Strömen die Wangen herunter. Er schluchzt, ringt nach Fassung, schildert nach einer zehnminütigen Unterbrechung des Richters, wie sich der Überfall auf seinen Imbiss abgespielt haben soll.

Der Angeklagte Michael K. blättert kurz vor Prozessbeginn durch die Ermittlungsakte.
Der Angeklagte Michael K. blättert kurz vor Prozessbeginn durch die Ermittlungsakte. | Bild: Küster, Sebastian

Es ist kurz vor 23 Uhr. Feierabend für Nihad P. Der Türke räumt seinen kleinen Imbiss auf. Rund 650 Euro liegen in der Kasse. Ein ganz normaler Wochentag – eigentlich. Plötzlich drückt jemand dem Dönerverkäufer eine Pistole in den Nacken. Er will Geld, alles, und zwar schnell.

„Das ging ganz schnell“

Der Räuber trägt schwarze Kleidung, schwarze Baseballkappe und schwarzen Mundschutz. Nur seine Augen liegen frei. „Dann ging auf einmal alles ganz schnell“, sagt der Zeuge. Der Mann packt das Geld ein, stürmt durch die Hintertür und flüchtet durch eine kleine Gasse.

Nihad P. reagiert ohne nachzudenken und läuft dem Räuber hinterher. „Hey!“ oder „Hallo!“ schreit er. Was genau, weiß der Zeuge heute nicht mehr. „Ich wollte ihn nicht davon kommen lassen und ich wollte, dass die anderen Menschen auf die Situation aufmerksam werden“, übersetzt eine Dolmetscherin frei.

Schuss mit einer Schreckschusspistole

Der Räuber dreht sich um, zückt seine Waffe und drückt aus zehn Metern Entfernung den Abzug seiner Schreckschusspistole. Ob in die Luft, auf den Boden oder gezielt auf seinen Verfolger – das ist bislang unklar.

Fakt ist: Diese Nacht hat bei dem Türken tiefe Wunden hinterlassen. Nicht körperlich. Sondern seelisch. „Schlafen kann ich fast gar nicht mehr seitdem. Und wenn, wache ich oft schreiend auf“, übersetzt seine Dolmetscherin kurz bevor der Zeuge aus der Beweisaufnahme entlassen wird.

Auch andere Opfer leiden bis heute

Und er ist nicht der einzige. Auch einige andere Opfer des Feierabend-Räubers kämpfen mit den Folgen des Überfalls. Ein Kassierer des Netto-Markts kündigte kurze Zeit später seinen Job, wie er vor Gericht schildert – auch weil das mulmige Gefühl kurz vor Feierabend blieb.

Eine Mitarbeiterin des Edeka, den der Angeklagte überfiel, muss manchmal schlucken, wenn ein merkwürdiger Kunde mit Mundschutz spät den Supermarkt betritt. Sie holte sich nach der Tat psychologischen Rat.

Michael K. hört sich an, was der Dönerbuden-Besitzer zu sagen hat. Der Glatzkopf sitzt mit verschränkten Armen, blauem Mundschutz und gesenkten Kopf auf der Anklagebank. Drei Meter von Nihad P. entfernt. Immer wieder runzelt der Angeklagte mit kasachischen Wurzeln die Stirn. Nicht mehr, nicht weniger. Sein Anwalt, Gerhard Zahner, lässt nach jeder Zeugenaussage verkünden: „Meinem Mandanten tut es leid, was passiert ist.“

Rechtsanwalt Gerhard Zahner vertritt den Angeklagten vor dem Konstanzer Landgericht.
Rechtsanwalt Gerhard Zahner vertritt den Angeklagten vor dem Konstanzer Landgericht. | Bild: Küster, Sebastian

Die Staatsanwaltschaft glaubt, dass sechs Raubüberfälle auf das Konto des Angeklagten gehen. Vier davon auf Supermärkte, einer auf den Imbiss von Nihad P. und einer auf einen Baumarkt im Konstanzer Industriegebiet. Bei letzterem wurde der Räuber von der Polizei festgenommen – auch Feierabend-Räuber wurde er genannt, weil er immer kurz vor Ladenschluss zuschlug. 8000 Euro soll er insgesamt erbeutet haben. Seit seiner Festnahme sitzt Michael K. in Untersuchungshaft.

Vollumfängliches Geständnis abgelegt

Bei der Verhandlung geht es nur noch um die Höhe der Strafe. Denn schon kurz nach der Festnahme gab der Angeklagte über seinen Anwalt ein vollumfängliches Geständnis ab und räumte alle Taten ein.

Die Strafe ist aber nur bedingt abhängig vom Geständnis. Hinzu kommt die Schwere der Tat – neun Zeugen schildern, was sich genau bei den Überfällen abgespielt haben soll. Und auch der Zustand des Angeklagten, die Vorgeschichte, die Hintergründe und das Motiv spielen eine entscheidende Rolle. Also: Aus welchem Grund begeht ein Mann sechs Überfälle innerhalb kürzester Zeit?

Corona-Krise wurde zur persönlichen Krise

Die Verteidigung begründet es mit einer teuflischen Mischung aus Perspektivlosigkeit, jahrzehntelanger Drogensucht und den Folgen der Pandemie. Michael K. ist arbeitslos. Doch das war nicht immer so. Der 38-Jährige verdiente lange in Deutschland und der Schweiz viel Geld auf dem Bau. Mit der Corona-Krise kam die Insolvenz seines Arbeitgebers. Und der Schritt in die Kriminalität beginnt.

Der Verteidiger des Angeklagten, Gerhard Zahner, hat neben der Ermittlungsakte auch ein Tablet dabei.
Der Verteidiger des Angeklagten, Gerhard Zahner, hat neben der Ermittlungsakte auch ein Tablet dabei. | Bild: Küster, Sebastian

Denn plötzlich kann sich Michael K. seine Drogen nicht mehr bei seinem Dealer des Vertrauens besorgen. Seine Taschen sind von heute auf morgen leer. Mit zwölf hing K. das erste Mal an der Flasche. Mit 18 kam Heroin dazu. Sein ein Jahr älterer Bruder starb an einer Überdosis.

Zwanzig Bier am Tag

Heute trinkt er bis zu zwanzig Flaschen Bier und nimmt Methadon – täglich. Den finanziellen Engpass hält er nicht lange durch. Er kennt nur noch einen Ausweg: Das Geld durch Raubzüge in Konstanz beschaffen. So begründet es zumindest sein Anwalt, Gerhard Zahner. Michael K. selbst äußert sich zum Vorwurf der Staatsanwaltschaft vor Gericht kein einziges Mal.

Das könnte Sie auch interessieren

Wie massiv sich die Vergangenheit des Angeklagten auf das Urteil des Richters auswirken wird, entscheidet sich am Freitag – wenn Michael K. schuldig gesprochen werden sollte. Die Mindeststrafe liegt bei drei Jahren Gefängnis, die Höchststrafe bei 15 Jahren.

Für die Opfer des Feierabend-Räubers wäre der Abschluss der Verhandlungen ein wichtiger Schritt in Richtung Normalität.