Lässt sich die Abkopplung des Südens noch verhindern? Sprich: Führt noch irgendein Weg daran vorbei, dass im Zuge des Bahnprojekts Stuttgart 21 die Gäubahn, die von Stuttgart nach Horb, Rottweil, Singen und Zürich führt, auf Jahre keine Direktverbindung mehr in die Landeshauptstadt hat?

Das in etwa ist die Frage, die das hochkarätig besetzte Podium im Singener Kulturzentrum Gems auf Einladung der Stadt Singen, der Schutzgemeinschaft Filder, der Gems und des VCD Konstanz am Sonntagabend – neben vielen Detailfragen – beantworten soll. Man kann sagen: In Singen haben sie die Hoffnung noch nicht aufgegeben – aber wirklich Mut macht nur eine Klage.

Dabei ist die Sachlage ziemlich eindeutig: Es spricht – aus verkehrstechnischer Sicht – sehr vieles dafür, die Fahrgäste nicht in Vaihingen zum Umstieg auf die S-Bahn zu verdonnern. Nicht zuletzt die Kosten für den elf Kilometer langen Pfaffensteigtunnel, der die Gäubahn über den Flughafen mit dem Hauptbahnhof verbinden soll – anstelle der Panoramastrecke, die sich heute von den Fildern den Stuttgarter Talkessel hinabwindet und deren Fläche die Stadt Stuttgart zum Teil anderweitig bebauen will.

Ex-SBB-Chef wettet gegen den Pfaffensteigtunnel

Die Kosten für den Pfaffensteigtunnel werden – Stand April 2024 – auf 2,7 Milliarden Euro beziffert, Finanzierung unbekannt. Was Benedikt Weibel, der als ehemaliger Vorstand der Schweizerischen Bundesbahnen auf dem Podium sitzt, zu folgender Aussage verleitet: „Ich mache jede Wette, dass der Pfaffensteigtunnel niemals gebaut wird.“ Weibel, dessen SBB ausreichend Erfahrung mit Tunneln gesammelt hat, weiß um den Aufwand. „Das wird am Ende keine Kosten-Nutzen-Rechnung überstehen.“

Benedikt Weibel, ehemaliger Vorstand der Schweizerischen Bundesbahnen.
Benedikt Weibel, ehemaliger Vorstand der Schweizerischen Bundesbahnen. | Bild: Benedikt Weibel

Dazu kommen die Auswirkungen auf die 1,4 Millionen Bürger, die entlang der Gäubahn-Strecke leben – und auf deren Mobilitätsverhalten. Eigentlich hat sich die Landesregierung eine Verdoppelung der Fahrgastzahlen im öffentlichen Verkehr bis 2030 vorgenommen. Wenn die Fahrgäste vom voraussichtlichen Baubeginn im Sommer 2026 an mindestens sieben Jahre lang in Vaihingen in die S-Bahn umsteigen müssen, wird die Strecke definitiv unattraktiver.

Die internationale bahnpolitische Dimension ist nicht zu vergessen: Als „Treppenwitz der Geschichte“ bezeichnet es der Schweizer Weibel, dass die „uralte Magistrale“, auf der man einst ohne Umsteigen von Rom nach Berlin habe fahren können, auf diese Weise kaputt gemacht wird.

16 statt acht Gleise – auf 100 Jahre zementiert

Außerdem hegen S21-Kritiker seit jeher den Verdacht, dass die Umstellung von Kopf- auf unterirdischem Bahnhof mit acht statt 16 Gleisen nur im totalen Chaos enden kann. „Stuttgart 21 bietet nicht die erforderlichen Kapazitäten, vor allem nicht mit Blick auf die Zukunft“, sagt Matthias Gastel, Verkehrsexperte der Grünen im Bundestag. Unterirdisch lassen sich Gleise unmöglich erweitern, auch wenn das für eine Verkehrswende nötig werden sollte. „Da ist auf 100 Jahre zementiert, was da gebaut wird“, sagt Gastel.

Und doch stellt die Moderatorin Monika Zimmermann vom Verkehrsclub Deutschland (VCD) im Laufe der Diskussion irgendwann fest: „Niemand will die oberirdische Lösung – nur die 1,4 Millionen Bürger.“ Keiner der drei anwesenden Bundespolitiker auf dem Podium will in Aussicht stellen, dass der Bau des Pfaffensteigtunnels noch abgeblasen wird.

Abgeordnete sehen wenig Spielraum

„Das wird so nicht kommen, aus juristischen Gründen“, sagt Michael Donth, CDU-Bundestagsabgeordneter aus Reutlingen und Mitglied des Verkehrsausschusses. Isabel Cademartori aus Mannheim, verkehrspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion, will zwar gerne prüfen lassen, ob die Panoramastrecke doch erhalten bleiben könnte – allerdings nur zusätzlich. Beide sichern nur zu, mehr Druck auf die Bahn machen zu wollen, damit die sich beim Bau des Pfaffensteigtunnels sputet.

Selbst der Grüne Gastel will von der eingeschlagenen Marschroute nicht abweichen. „Wir leben in einem Rechtsstaat“, ruft er aus, als Filmemacher Klaus Gietinger (“Das trojanische Pferd“ – über S21) den Politikern auf der Bühne vorwirft, nur um den heißen Brei herumzureden.

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Die Gründe dafür liegen im Konstrukt der fünf Projektpartner von Stuttgart 21: Bahn, Bund, Land, die Stadt Stuttgart und der Flughafen Stuttgart. Besonders Letzterer hat ein großes Interesse daran, dass die ihm zugesicherte Anbindung des Bahnverkehrs aus dem Süden auch verwirklicht wird. „Der Flughafen hat dafür einmal 349 Millionen Euro bezahlt. Das war damals ein gutes Geschäft für die anderen“, erzählt Gastel. Weil man damals noch davon ausgegangen sei, dass die Anbindung billiger käme.

Interesse an der Gäubahn-Kappung hat freilich auch ein weiterer Projektpartner: die Stadt Stuttgart hat 2001 alle Schienengrundstücke gekauft, die von der Bahn künftig nicht mehr benötigt werden. Die will sie auch nutzen.

„Unsere einzige Chance ist die DUH“

Aus Sicht der Gäubahn-Anreiner ein Dilemma aus vertraglichen Bindungen und Interessen, in dem sie keine Rolle spielen – und kaum Chance auf Gehör haben. Er beschäftige sich seit 30 Jahren – lange vor S21 – mit der Gäubahn und der Frust sei heute nicht geringer geworden, bekennt Singens Oberbürgermeister Bernd Häusler am Sonntagabend. „Unsere einzige Chance ist die DUH.“

Diskutanten und prominente Gäste auf der Bühne des Kulturzentrums Gems in Singen: Andreas Jung (CDU, von links), Organisator Nikolas ...
Diskutanten und prominente Gäste auf der Bühne des Kulturzentrums Gems in Singen: Andreas Jung (CDU, von links), Organisator Nikolas Baur, Michael Donth (CDU), Isabel Cademartori (SPD), Matthias Gastel (Grüne), Jürgen Resch (DUH), Frank Distel (Schutzgemeinschaft Filder), Moderatorin Monika Zimmermann (VCD), Lina Seitzl (SPD) und Singens Oberbürgermeister Bernd Häusler (CDU). | Bild: Vithusan Vijayakumar/VCD

Die Hoffnungen aller Gäubahn-Aktivisten ruhen also auf Jürgen Resch und dessen Deutscher Umwelthilfe. Die hat sich einen Namen gemacht mit erfolgreichen Klagen für Klima und Umweltschutz – und beispielsweise dafür gesorgt, dass im ganzen Land Umweltzonen eingerichtet werden mussten, um die Bevölkerung vor zu hoher Feinstaub-Belastung zu schützen. Jetzt also will Resch die Gäubahn retten und Stuttgart 21 gleich mit.

Klage im Juni 2023 eingereicht

Vor ziemlich genau einem Jahr hat der Umwelthilfe-Chef aus Überlingen die Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch das Eisenbahn-Bundesamt, eingereicht. Zunächst beim Verwaltungsgerichtshof, der das Verfahren im Winter an das Verwaltungsgericht übergeben hat.

Hauptvorwurf der 44-seitigen Anklageschrift: Die Bundesrepublik setzt nicht rechtmäßig um, was im Planfeststellungsbeschluss zu Stuttgart 21 festgehalten wurde. Genauer: Das Eisenbahn-Bundesamt soll gegenüber der Deutschen Bahn (dem Projekt Stuttgart-Ulm) und der Stadt Stuttgart durchsetzen, dass die Bedingungen, unter denen S21 genehmigt wurde, auch eingehalten werden.

Das Kulturzentrum Gems in Singen ist gut gefüllt.
Das Kulturzentrum Gems in Singen ist gut gefüllt. | Bild: Vithusan Vijayakumar/VCD

Gemeint ist damit die unzulässig lange Unterbrechung der Gäubahn-Strecke. Die Direktverbindung von der Schweiz in die baden-württembergische Landeshauptstadt soll für Jahre unterbrochen werden, wenn Stuttgart 21 an den Start geht.

Wie lange genau – da gehen die Meinungen weit auseinander. Die Bahn spricht von sieben Jahren, die es dauern würde, bis die Gäubahn-Strecke über den noch zu bauenden Pfaffensteigtunnel via Flughafen wieder direkt an den Hauptbahnhof angebunden sein werde. Die DUH rechnet mit 15 bis 20 Jahren.

Vier Monate oder jahrelange Unterbrechung

Die Planfeststellung aber gehe davon aus, dass die Abbindung der Panoramastrecke und die Inbetriebnahme der neuen Anbindung über den Flughafen nahezu zeitgleich erfolge, heißt es in der Klageschrift: „Lediglich für einen kurzen Übergangszeitraum von etwa vier bis sechs Monaten sollte die Gäubahn keine Anbindung an den Hauptbahnhof haben.“

Vier bis sechs Monate der genehmigten Planung sind allerdings ein erheblicher Unterschied zu sieben bis 20 Jahren. „Dieses rechtlich genehmigte Konzept kann man nicht einfach über den Haufen werfen“, argumentiert DUH-Anwalt Remo Klinger.

Jürgen Resch, Bundesgeschäftsführer der Deutschen Umwelthilfe (DUH).
Jürgen Resch, Bundesgeschäftsführer der Deutschen Umwelthilfe (DUH). | Bild: Stefan Hilser

Resch sagt, er höre immer wieder aus der Politik, dass die gerade zu darauf hoffe, dass die DUH-Klage endlich den Anlass biete, das bisher Beschlossene in Frage zu stellen. Die Bahn jedenfalls nehme seine Klage ernst, ist Resch überzeugt.

Die Frage ist, bis wann eine Entscheidung fällt. „Wir versuchen vom Gericht herauszubekommen, wann es soweit ist“, sagt Resch, der von einer „zeitnahen Terminierung“ ausgeht, möglicherweise noch vor, aber wahrscheinlicher nach der Sommerpause.

Die Verzögerung bietet Raum für Gedankenspiele

„Wenn die Deutsche Umwelthilfe die Klage gewinnt, werden die Projektplaner gezwungen sein, sich damit zu beschäftigen“, bringt es Gastel auf den Punkt. Er setzt außerdem auf die gerade bekannt gewordene Verzögerung, ab 2025 soll S21 schrittweise in Betrieb gehen.

Dass in Stuttgart ober- wie unterirdisch Züge einlaufen sollen, eröffne den Raum für Gedankenspiele. „Wenn es dann unten nicht läuft, wird man nicht sagen können: Wir machen oben dicht.“ Wenn die Panoramastrecke bis dahin nicht Geschichte ist, könnte sie noch Stuttgart 21 retten, ist Resch überzeugt. Schlicht und einfach, weil über die oberirdischen Gleise weiter Verkehr abgewickelt werden könnte.

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Jobst Knoblauch aus Engen, der seit Jahren gegen Stuttgart 21 kämpft – vor allem mit Briefen an Politik und Medien –, macht das Mut: „Für mich ist das nicht gelaufen“, sagt er. Die mit 160 Personen gut gefüllte Kulturhalle dokumentiert jedenfalls das Interesse. Auch wenn bei der Frage, wer regelmäßig mit der Gäubahn fahre, nicht viele den Finger heben.

Die Strecke hat nämlich noch andere Probleme als die drohende Kappung: Regelmäßig ist Schienenersatzverkehr nötig, um die Strecke stellenweise zweigleisig auszubauen. „Das verlängert die Fahrtzeit so sehr, dass die Unterbrechung in Vaihingen für uns überhaupt keine Rolle spielt“, gibt Hans-Peter Storz, SPD-Landtagsabgeordneter aus Singen, zu bedenken.