Herr Raue, wenn Timm Mälzer der Rock‘n‘Roller ist, sind Sie dann der Johann Sebastian Bach der deutschen Spitzenköche?
Ich sehe mich selbst tatsächlich eher als etwas Elfenhaftes, auch wenn das witzig klingt. Die Elfe passt auf jeden Fall zur Facette meiner Persönlichkeit, die der Küchenchef ist. Das ist sehr, sehr fein, sehr sensitiv, sehr sensibel, sehr kreativ und auch gestalterisch. Es gibt aber auch die Facette des Unternehmers und mittlerweile auch die abgespaltene private Version, da ich mittlerweile eine Person des öffentlichen Lebens geworden bin – in der Version bin ich auch einfach mal nur Tim, was mir auch sehr guttut. Mälzer ist definitiv der, der eher mit dem Bagger kommt. Ich fliege eher mit den Schmetterlingsflügeln daher.
Sie sind einer der wenigen deutschen Stars, die man auch im Ausland kennt und schätzt. Besteht da die Gefahr, abzuheben?
Ich habe viel dafür getan, damit ich international Aufmerksamkeit generiere. Ich habe sechs, sieben Jahre weltweit auf vier von fünf Kontinenten auf Koch-Symposien gekocht, ich bin rausgegangen. Das geht alles nicht auf Deutsch, das musst du auf Englisch machen. Wenn ich vor Ort war, habe ich auch für Journalisten gekocht. Ich hatte großes Glück, das muss man so sagen: Es war kein Sechser, es war ein Achtzehner im Lotto, dass ich die Chefs-Table-Serie bei Netflix bekommen habe. Bis heute kommt rund ein Drittel unserer Gäste deswegen. Das ist absoluter Wahnsinn. Ich sehe mich nicht als den Superstar, denn es sind immer viele Menschen um mich herum. Und es sind unterschiedliche Kanäle, die das Restaurant füllen – das ist für mich entscheidend. Je mehr ich mache als eine achtarmige Krake, umso mehr kommt rein. Social Media, Print, Podcast, Fernsehen – alle mit einer anderen Zuhörerschaft.
Starkoch Tim Raue: „Alles, was ich habe, würde für ein weiteres Leben reichen“
Aber die Gäste kommen doch in erster Linie wegen Ihnen: Wegen des Starkochs und des Entertainers Tim Raue, den sie aus dem Fernsehen kennen.
Aber das ist etwas, was ich noch nie ernst genommen habe und was ich meinen Mitarbeitern von Tag eins beigebracht habe: Jeder von uns ist ersetzbar, jeder. Da bin ich amerikanisch geprägt. Ich kann mich noch den Gault & Millau erinnern: Der damalige von mir hoch geschätzte Chefredakteur Manfred Kohnke, Gott habe ihn selig, hat gesagt: Für ihn muss der Koch immer am Herd in einem Restaurant sein, weil, wenn Karajan krank ist, spielen die Berliner Philharmoniker ja auch nicht. Ich habe zu ihm gesagt: Herr Kohnke, ich komme aus dem amerikanischen Sektor, da muss jedes Ding ein Business Unit sein und muss Geld verdienen. Und Geld verdienen bedeutet in diesem Fall: Jeder muss ersetzbar sein, auch ich. Und ich will nicht nur ein Restaurant haben, da habe ich keinen Bock drauf. Ich will mich bewegen, ich habe Energie, neue Sachen ausprobieren. Wenn ich daher keine hohen Bewertungen bekomme, kann ich damit wunderbar leben. Ich kann übrigens auch wunderbar damit leben, dass der Michelin mir gesagt hat, mit ihrer Art der Küche, mit ihren Aromen bekommen sie keinen dritten Stern. Das ist doch fair, dann können wir einen Haken dahinter machen.
Sie haben acht eigene Restaurants, zwei kommen 2025 dazu, vier eigene TV- oder Netflix-Shows, mehrere Gastauftritte in anderen Koch-Shows. Sie geben Seminare, kochen auf großen Events weltweit. Wie bekommen Sie das alles gemeinsam mit dem privaten Tim unter einen Hut?
Menschen arbeiten in ihrem Leben – und haben Interessen, Hobby, Freunde. Bei mir ist es so, ich arbeite und lebe in dieser Arbeit. Das ist für mich bedingt aus meiner nicht ganz einfachen Kindheit und Jugend der Ansporn, dass ich in diesem Leben etwas leisten muss, ansonsten bin ich nichts wert – gesellschaftlich nicht, für mich selber nicht. Wir haben aktuell das Problem, dass wir eine Generation Z haben, die immer wieder proklamiert, weniger zu arbeiten, mehr Ruhe zu brauchen, auf die Work-Life-Balance zu achten. Das steht ihnen natürlich alles zu, was sie aber nicht vergessen dürfen, dass viele der Annehmlichkeiten, die wir heute in Deutschland haben, darauf basieren, dass wir ein Sozialstaat sind. Das bedeutet, dass jeder etwas einzahlen muss, damit alle davon profitieren. Je weniger einzahlen, umso weniger Profiteure wird es geben. Ich habe den eigenen Anspruch einzuzahlen, das ist für mich ganz wichtig. In jedem Bereich. Ich war früher ein harter Chef, der auch ausgebeutet hat. Heute ist es so, dass ich niemanden anhalten werde, bei mir nur acht Stunden zu arbeiten, sondern ich sage ihnen: Ihr seid jung, ihr könnt die Zeit investieren, ihr kennt den Dienstplan, ihr wisst, was ihr zu machen habt. Aber wenn ihr etwas ausprobieren wollt, dann liegt das an euch, es ist eure Verantwortung, euch weiterzubilden, mehr zu machen.
Wenn man ihr Schaffen betrachtet, könnte man sie als Workaholic bezeichnen.
Schauen Sie: Ich arbeite, seitdem ich 17 Jahre alt bin, zwischen 16 und 20 Stunden am Tag, immer sechs Tage die Woche, gerne auch sieben. Mein Urlaub ist anders definiert. Das suche ich mir alles selbst aus, das ist die Freiheit, die ich habe. Wenn ich mich als Leitbild nehme, sage ich zu den jungen Leuten: Ihr müsst das nicht machen, aber ich könnte anders nicht so erfolgreich sein, wie ich bin. Für mich ist das eben eine Definitionssache. Ich stehe nicht morgens aus und schaue in den Spiegel: Boah, ich bin Tim Raue. Um Gottes willen, das geht ganz anders: Ich wache auf, meistens weiß ich nicht, wo ich bin, welcher Tag es ist, ich checke mein Telefon, was über die Nacht in den unterschiedlichen Zeitzonen reingekommen ist, welche Probleme hatten wir, wo kann ich die Mitarbeiter unterstützen, wo kann ich für sie da sein. Im Schnitt verbringe ich erstmal ein bis zwei Stunden damit, das, was in der Nacht passiert ist, aufzuarbeiten. Mein Tag passe ich dann an. Der ist weit im Voraus geplant. Das ist die Art und Weise, wie ich lebe. Natürlich braucht man die Partner dazu – privat wie geschäftlich. Meine Frau führt ein völlig unabhängiges Leben. Wenn wir zusammenkommen, genießen wir jede Sekunde. Das ist der Grund, warum ich nicht koche, wenn wir zusammen sind, weil das für mich Zeitverschwendung ist. Ich würde die Aufmerksamkeit nicht bei meiner Frau haben, da unterstütze ich dann gerne die lokale Gastronomie.

Also bestellen Sie Essen und lassen es sich liefern?
Selbstverständlich. Das ist allerdings dem geschuldet, dass ich in dem Moment, wo ich in die Öffentlichkeit gehe, erkannt werde. Die Menschen sind sehr nett zu mir, keine Frage. Aber sie haben Wünsche: Fotos, Videos, Glückwünsche. Aber wenn ich mit meiner Frau zusammen bin, dann ist das nicht mein Primärziel, das zu erfüllen, was die Menschen von mir wollen, sondern dann möchte ich für sie da sein. Wo ich dann bin, wir haben ja drei Wohnsitze, bestelle ich dann auch. Wenn ich freihabe, was nicht oft vorkommt, bin ich eine absolute Couch-Potatoe. Der Sonntag ist unser heiliger Tag.
Nach der schweren Kindheit mit der häuslichen Gewalt Ihres Vaters sowie Ihren Aktivitäten in einer Jugendgang: Hätten Sie jemals damit gerechnet, dass Sie so erfolgreich sein würden?
Nein, das ist völlig kurios. In solchen Mustern denke ich aber auch gar nicht. Ich lebe im Hier und Jetzt. Ich habe fast alles vergessen, was in diesem Jahr passiert ist. Ich weiß ja schon gar nicht mehr, was ich vor zwei oder drei Wochen gemacht habe. Das bleibt nicht hängen, denn ich bin immer vorwärtsgerichtet. Das hat den Nachteil, dass ich manchmal Dinge zwei- oder dreifach kaufe. Ich bin ein Impulskäufer. Es kann passieren, dass ich vier Packungen Wattestäbchen daheim habe. Grundsätzlich bereue ich nichts, keine Entscheidung. Ich hatte in meinem Leben ein paar Abzweigungen, da hätten sich Dinge anders entwickeln können. Ich könnte weltweiter Küchendirektor einer weltweiten und großartigen Hotelkette sein, das würde auch Spaß machen, ist aber extrem limitiert mit den Möglichkeiten. Als Selbstständiger kann ich machen, was ich will. Grundsätzlich bin ich in der Lebensposition, dass ich nichts mehr brauche. Alles, was ich habe, würde für ein weiteres Leben reichen.
„Mein Großvater hat mir die preußischen Tugenden mitgegeben“
Das klingt verführerisch und verleitet manche bestimmt zu Müßiggang. Wieso bei Ihnen nicht?
Ich bin für meine Partner immer eine Herausforderung, ich habe unfassbare Ansprüche an mich selbst, Perfektion. Wenn ich etwas mache, dann wichse ich das nicht einfach hin, dann messen ich alles dreimal aus, drehe es viermal hin und her, erstelle fünf Fassungen. Ich mische die Komponenten, versuche neu, mische wieder, reduziere, mache mehrere Varianten, um zu schauen, wie es wird. Wenn ich weiß, ich nehme Zander und Rübchen und Minze, dann baue ich das Gericht langsam auf: welches Püree, welches Gel, welche Soße, wo ist die Säure, wo ist die Schärfe, wo ist die Textur. Wenn alles fertig ist, stelle ich nochmal alles in Frage: Sind es wirklich Rübchen? Wollen wir nicht Kohlrabi nehmen? Ist es wirklich Zander und nicht Forelle oder Steinbeißer? Dann wird alles noch einmal durchprobiert, bis wir final sagen: Jetzt steht das Gericht! Dann steht es auch Jahre auf der Karte. Was das angeht, bin ich unfassbar nervig.
Kann man ungefähr sagen, wie lange es von der Idee bis zum Gericht dauert?
Das ist unterschiedlich. Wenn wir von den Colettes wie hier in Konstanz sprechen: Das kriegen wir relativ flott hin. Wir ändern die Karte zweimal im Jahr und arbeiten immer, wenn die eine Karte steht, schon an der nächsten. Im Restaurant ist es so, dass wir parallel mit vier und fünf Gerichten arbeiten und im Jahr ein Output von maximal acht Gerichten haben.
Ihr Restaurant Tim Raue in Berlin ist offiziell das 30. beste der Welt. Wie surreal fühlt sich das an angesichts von geschätzten 2,45 Millionen Restaurants?
Normal denke ich nie daran. Wenn ich aber daran denke, wird es mir ein wenig weich um die Knie, das kann schon passieren. Wenn ich dann realisiere, bis wohin ich es geschafft habe, dann sind das in der Tat die wenigen Momente in meinem Leben, wo ich die Fassung verliere, wo ich auch weine. Das dauert nicht lange, vielleicht so fünf bis zehn Sekunden, aber das merke ich dann schon. Ich finde aber auch wichtig, das nicht jeden Tag zu feiern. Ich kenne Menschen, die in den Spiegel gucken und sich richtig geil finden. Das finde ich richtig unangenehm und das ist auch nichts, womit ich groß geworden bin.
Wie sind Sie denn groß geworden?
Mein Großvater hat mir die preußischen Tugenden mitgegeben: Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit, Fleiß, Ordnung, Disziplin, demütig sein, sich zurückzunehmen. Als Gastronom bist du immer für andere da und wenn du dich irgendwann für zu geil hältst, dann entsteht etwas, was ich bösartig Museumsrestaurants nenne. Ein Trend, der leider in den letzten Jahren stark war schon vor der Pandemie. Heute haben viele davon Probleme.
Das müssen Sie uns genauer erklären, bitte.
Museumsrestaurants sind für mich Restaurants, in denen es egal ist, wer kommt: Es gibt ein Menü, ein Programm, am besten noch eine feste Weinbegleitung oder eine alkoholfreie Saftbegleitung, dann kommst du ins Restaurant und mit dir wird ein Programm durchgeführt. So, als würdest du durchs Museum geführt werden. Am Ende gehst du wieder. Es geht nicht darum, was du magst oder was du möchtest. Da wirst als Gast nicht gefragt, ob man noch etwas für dich tun kann, welche Gerichte hast du auf Netflix gesehen und können wir das noch einbauen, können wir etwas für dich machen. Du magst Sherry von früher und wir bauen in einen Gang den Sherry ein und wecken Erinnerungen. Nur so entwickelst du eine Sensibilität für den Gast. Das schaffst du nicht mit jedem Gast, aber mein Anspruch ist immer: Pro Service gehe ich auf den Gast ein. Ich war neulich in unserem Colette in München, ein Gast kam und sagte, dass ihm die Topinambur-Suppe so gut geschmeckt hatte. Wir hatten davon noch etwas übrig, das haben wir ihm in einem Einmachglas mitgegeben, ich habe ihm einfach das Glas hingestellt. In solchen Momenten schaffe ich eine Verbindung, die weit hinaus geht über den Satz ‚Ich war da mal essen‘.
Stichwort Erinnerung mit einem Gericht wachrufen: an den letzten Urlaub, an die Großmutter. Wie schaffen Sie das mit der Spitzenküche?
Das sind Assoziationen, für die ich mich früher geschämt habe. Ich habe über solche Dinge geredet und die Leute haben mich angeschaut, als sei ich bescheuert. Aber das war das, was ich gefühlt habe und vor dem inneren Auge gesehen habe. Ich denke nicht: Tomate, oh ja, Bio, die hat jemand gepflückt, wie wird die jetzt gekocht. Bei mir ist das so: Booaahhh, Tomatensuppe, das ist wie Bud Spencer, wenn der mit seiner ganzen Masse daherkam, dann hatten er und Terence Hill solche Pfannen, in denen sie Bohnen und Fleisch ausgelassen haben und so eine rote Soße, dann hatten sie eine Art Fladenbrot und sind damit durch die Pfanne gegangen, diese Tomatensoße muss die Basis sein, die müssen wir morgen zum Personalessen machen mit türkischer Sucuk-Wurst und weißen Bohnen und dazu das Fladenbrot. Das ist wirklich Bud Spencer, das ist fett, das ist haarig, das ist animalisch, das riecht, das ist nicht frisch geduscht.
Warum Tim Raue das Restaurant auf dem Berliner Fernsehturm übernimmt
Heute schauen Sie die Leute nicht mehr ungläubig an, sondern hören Ihnen fast schon andächtig zu.
Als ich Tim Mälzer kennengelernt habe und ich ihm das erzählt habe, hat er gesagt: Damit musst du ins Fernsehen. Da habe ich gesagt: Das kann ich nicht machen, die Leute werden mich auslachen, die werden sich über mich lustig machen und mich zerreißen, weil das schon fast poetisch, feinsinnig ist, damit werden die Menschen nicht klarkommen. Die wollen wissen: Ooohhhh, Fleischsalat, mmhhh, lecker. Brötchen, ja, knusprig. Doch ich bin diesen Weg gegangen und hätte es nicht für möglich gehalten, doch ich habe jetzt ein Alleinstellungsmerkmal im deutschen Fernsehen. Wenn ich über Essen rede, wird mir zugehört und die Menschen interessieren sich dafür. Aber ich tue nichts dafür, schreibe mir nichts auf Zettel wie andere vielleicht ihre Gags. Ich notiere mir nicht zum Beispiel: Birne ist wie ein Spaziergang durch was auch immer. Nein, das kommt in dem Moment aus mir heraus. Das ist genau gleich, wenn mir etwas missfällt, dann bin ich sehr präzise und hart. Wenn jemand etwas versaut, ist das immer auch eine Respektlosigkeit gegenüber den Zutaten, die uns die Natur zur Verfügung stellt.
Was sehen Sie für Trends in der Küche?
Ich finde, dass die 18, 19-Jährigen heute so aussehen wie ich mit 16, 17 Jahren. Und ich finde: Die sehen richtig scheiße aus mit diesen abrasierten Seiten. Früher hieß das Vokuhila. Diese bekackten Jeans oder diese großen Buffalo-Boots, furchtbar. Ich bin der festen Überzeugung, dass Trends etwas für Loser sind. Wenn du auf Trends aufspringst, heißt das, du hast eine ganz kurze Periode, in der du funktionierst. Damit verlierst du. Das man ich mit Loser. Bei Speisekarten in der Hotellerie sprichst du auf der Speisekarte von Runnern und Losern. Ein Runner wird immer etwas bleiben mit Länge, Alter und Wurzeln. Ein Loser ist etwas, was mal kurz hochschießt und dann wieder verschwinden, Beispiel Dubai Schokolade. Ein Runner wird immer den Mainstream treffen, es gibt einige Superfoods und Superküchen. Andere sind tendenziell. Chinesisch, japanisch, italienisch – das sind die großen Küchen, die du, egal wo du bist auf der Welt, findest und die immer und überall funktionieren. Schnitzel übrigens auch. Immer. Ein Steakhouse ebenfalls, ein Seafood-Restaurant, eine Eisdiele, wenn du es herausragend machst in dem Preissegment, wenn du den Meter mehr gehst, wenn du bei den Zutaten und beim Abschmecken darauf achtest, dass es mit Liebe und Hingabe gemacht wird. Der Gast schmeckt den Unterschied zwischen Passion und rausgewichst. Das ist so. Für mich ist die Atmosphäre entscheidend: Du kommst in den Raum, fühlst dich wohl und möchtest dich hinsetzen. Oder möchtest du am liebsten gleich wieder gehen? Es geht darum, dass du etwas schaffst. Warum gehst du ins Restaurant? Weil du eine Auszeit möchtest.
Gleichzeitig gibt es auch gefühlt heute mehr Restaurants, wo es um die schnelle Ernährung geht.
Es gibt natürlich auch andere Beispiele: Ich finde, die Blockhouse-Restaurants haben ein fürchterliches Innendesign, das so altbacken ist. Du hast dort keine Überraschung. Jedes Mal, wenn du essen gehst, hast du kein Hoch und kein Tief. Das Ding ist zuverlässig, das läuft immer. Wie ein VW Passat. Das ist kein Lamborghini, der unberechenbar ist. Oder ein Ferrari, da ist sofort der Lappen weg, wenn du einmal zu fest aufs Gaspedal trittst. Das kann ich aber nicht. Ein Minimum an Verlässlichkeit ist ok, aber das macht mich nicht an, das treibt mich nicht an, da würde ich in Langweile sterben. Ich nenne das belange, französich ausgesprochen belosch, das ist die Französisierung von belanglos. Aber belanglos klingt so bösartig. Wenn ich mit meiner Frau Konzepte durchgehe oder Häuser anschaue und etwas ist belanglos, dann nutzen wir das Wort belange. Ich bin zum Beispiel beim Anziehen belange. Ich trage immer blau und blau. Immer. Meine Uniform ist blau in blau, privat ist alles blau in blau, dazu trage ich farbige Sneakers. Belange. Aber das gibt mir eine gewisse Sicherheit. Ich verstehe, dass es Menschen gibt, die eine Sicherheit wollen. Ich versuche aber immer, ans obere Limit zu gehen von dem, was ich dem Gast zumuten kann an Säure, Süße, Salzigkeit. Ich möchte, dass unsere Gäste eine Erfahrung machen, an die sie sich erinnern.
In Konstanz zum Beispiel haben zuletzt mehrere gutbürgerliche Restaurants zugemacht. Im Gegenzug gibt es immer mehr Chinesen, Inder oder Italiener. Beobachten Sie das auch in anderen Städten?
Ich kann ihnen auf Anhieb zehn Vietnamesen in Berlin nennen, aber ich bekomme keine zehn zusammen, die deutsch kochen, wo man hingehen könnte. Das ist auch ein Grund, warum ich 2025 das Restaurant auf dem Fernsehturm übernehmen werde und das anbieten möchte. Richtig gute Gasthäuser oder deutsche Restaurants sind rar gesät. Ich versuche, ohne preislich auszurasten, Königsberger Klopse zu machen oder Berliner Schnitzel, das ist das, was immer schwieriger wird – das Personal dafür fehlt schlicht und einfach. Du kannst die indische Küche machen mit Indern, die du anlernst, die arbeiten da ganz anders als in einem Gasthaus. Die haben keine Ausbildung, die geben das von einem zum anderen weiter, das ist ganz normal in Indien, die kennen ein Ausbildungssystem wie unseres gar nicht. Es ist nicht erstrebenswert, dass wir etwas machen, was entwicklungstechnisch 100 Jahre zurückliegt, dass wir uns eher an dem orientieren, was großartig ist, wir müssen hoffen, dass wir irgendwann einen Gegentrend hinbekommen. Auf der anderen Seite muss ich sagen, dass so etwas wie geile Pizzerien oder geile Burgerläden oder geile Inder eine andere Altersklientel zwischen 12 und 25 Jahren ansprechen, die sich sehr für Essen interessieren. Auf Tik Tok oder Instagram spielt Kulinarik eine große Rolle. Ich glaube auch, dass der Veganismus ein Lifestyle-Trend ist von Menschen, die mit viel zu viel Fleisch aufgewachsen sind, mit Supermärkten, wo wir Fleischprodukte haben, die für die Tonne sind, die aus Pülverchen und Fleischerpillen zusammengewichst werden, die kein Mensch essen sollte. Dann sagt die junge Generation: Auf diese Scheiße haben wir keinen Bock, da haben wir ein anderes Bewusstsein. Wenn wir etwas essen, dann muss es gut sein. In meinem Zwei-Sterne-Restaurant Tim Raue zum Beispiel isst ein Viertel das vegane Menü.