„Manchmal schaffen es einzelne Vögel nicht. Das muss man dann auch erklären.“ Das sagte Marius Riether Ende April im Gespräch, als gerade zwei Blaumeisen in einem Nistkasten auf seinem Balkon elf Eier gelegt hatten. Riether hatte im Internet per Livestream den ganzen Brutprozess gezeigt. Daneben betreibt er einen Naturblog. Auf dem erklärt er Interessierten, vor allem Familien und Kindern aus dem Freundeskreis, was gerade im Nistkasten so vor sich geht.
Und zunächst lief auch alles ganz normal. Doch nur wenige Tage, nachdem die elf Blaumeisen geschlüpft waren, sind sie alle tot. Was war passiert?
Das Weibchen verschwindet über Nacht
In den ersten Tagen sei die Aufzucht ohne Probleme abgelaufen, sagt Marius Riether: „Das Weibchen und das Männchen haben abwechselnd Futter geholt.“ Als er eines Abends den Livestream ausmacht, hatte sich das Weibchen gerade noch zu den Küken ins Nest gesetzt, um sie über Nacht warmzuhalten.

Beim Neustart der Übertragung am nächsten Morgen stellt die Familie jedoch fest, dass das Weibchen nicht mehr im Nest ist – und die Jungvögel zeigen keine Regung. Eine Stunde warten die Riethers, doch es gibt weiter keine Spur vom Weibchen. In der Folge kontaktieren sie den Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) und werden angeraten, nicht einzugreifen.
Auch laut Ulrich Heliosch, Vorsitzender des Naturschutzbundes (Nabu) Friedrichshafen-Tettnang, soll der Mensch in solchen Situation nicht eingreifen: „Tatsächlich kann man bei so kleinen Küken nicht helfen. Generell sollten auch ältere Jungvögel, die sich außerhalb des Nestes befinden, nicht gleich aufgenommen werden.“
Auch das Männchen gibt am Mittag auf
Marius Riether und seine Familie hatten weiter beobachtet, wie das Blaumeisen-Männchen immer wieder versuchte, den Küken Futter zu bringen. „Auch als er mit einer Made im Schnabel im Nistkasten war, hat sich bei den Kleinen nichts gerührt“, sagt Riether. Gegen Mittag habe das Männchen den Nistkasten das letzte Mal verlassen und kam nicht wieder.
Was könnte passiert sein?
Riether vermutet, dass das Weibchen in der Nacht das Nest verlassen hat und etwa einem Raubvogel zum Opfer gefallen sein könnte. „Auch ist es möglich, dass das Weibchen früh morgens ausgeflogen ist und dann auf andere Weise verunglückt ist. Zum Beispiel durch eine Kollision mit einem Auto oder an einer Fensterscheibe“, sagt Ulrich Heliosch vom Nabu. Mit Sicherheit können allerdings beide nicht sagen, wieso die Mutter verschwunden ist.
Für die Küken, von denen die letzten erst drei Tage zuvor geschlüpft waren, war es ohne die Mutter dann wohl in der Nacht und den frühen Morgenstunden zu kalt. Laut Heliosch sind die Weibchen in den ersten acht Tagen vorwiegend mit dem Hudern, also dem Wärmen der noch federlosen Küken beschäftigt.
Die Ornithologen Peter Santema und Bart Kempenaers vom Max-Planck-Institut hatten 2018 in einer Studie festgestellt, dass Küken eine deutlich geringere Chance zu überleben haben, wenn ein Elternteil verschwindet. Ist es das Blaumeisen-Weibchen, sinken die Chancen nochmal stärker. Grund dafür könnte demnach sein, dass die Männchen keinen Brutfleck, also einen federfreien Teil am Bauch haben, um die Küken warm zu halten.
Der Livestream läuft schon wieder
Nachdem dann endgültig klar war, dass die Küken nicht überlebt hatten, räumten die Riethers den Nistkasten. Denn so traurig die Geschichte der Blaumeisen endete: „Die Brutzeit ist gerade in vollem Gange“, sagt Marius Riether. Und die Hoffnung der Familie, dass sich das nächste Vogel-Pärchen auf ihrem Balkon niederlassen könnte, war berechtigt. Wie Marius Riether bestätigt, sind am Mittwoch, 8. Mai, zwei Kohlmeisen im Nistkasten der Markdorfer eingezogen. Der Livestream läuft auch wieder – dann vielleicht mit einem glücklicheren Ende.