„Jetzt machen wir Russisch“, sagt die Lehrerin. Die Kinder an den Bildschirmen stöhnen. Russisch? Welches ukrainische Kind aus Cherson will jetzt noch die Sprache der Besatzer lernen? Direkt in den ersten Kriegstagen rollten die russischen Panzer von der rund 100 Kilometer entfernten Krim aus nach Cherson und nahmen die südukrainische Hafenstadt in Beschlag. Viele aus Bilianas Klasse flüchteten, viele blieben. Jetzt unterrichten die Lehrerinnen, die noch in Cherson sind, ihre Schüler online. Jeden Tag, mehrere Stunden. „In der Ukraine ist Krieg, aber die Schule geht trotzdem weiter“, sagt Bilianas Mutter Natalia Zakutna später in der Küche bei einem Kaffee. Dafür sei sie sehr dankbar, denn es gebe den Kindern Halt und Struktur in dieser schweren Zeit.
31. Dezember 2021. Das Neujahrsfest wird in der Ukraine, anders als Weihnachten, groß gefeiert. Familie Zakutna aus Cherson besucht Freunde in Kiew, um gemeinsam zu feiern. Maria und ihr Mann Andreas sind dort zu Besuch, normalerweise leben sie in Tettnang am Bodensee. Maria stammt aus Kiew. Die Stimmung ist ausgelassen, sie trinken Glühwein und laufen durch das festlich geschmückte Kiew. Überall glitzert es. „Auf 2022!“ prosten sie sich zu. Was sie im neuen Jahr erwartet, ahnen die befreundeten Familien nicht ansatzweise.
Kinder aus der Klasse in ganz Europa verteilt
„Das ist meine beste Freundin“, sagt Biliana und zeigt auf ein Mädchen, das ebenfalls auf dem Bildschirm zu sehen ist. Die Freundin, sie ist mit ihrer Familie in der Slowakei untergekommen. Die Mädchen schicken sich im Chat heimlich lustige Gifs zu und kichern dabei. Ein anderes Mädchen trägt pinke Einhornkopfhörer und tippt immerzu auf ihrem Notebook herum. „Sie programmiert die ganze Zeit“, sagt Biliana und grinst. Morgens geht es um 8 Uhr los, dann treffen sich die 33 Kinder der 5. Klasse, die mittlerweile in ganz Europa verteilt sind, vor den Bildschirmen. „Wir haben viel Mathe, Literatur, aber auch Englisch“, sagt Biliana, die für ihre zehn Jahre ein erstaunlich gutes Englisch spricht. Ob das Schulgebäude in Cherson überhaupt noch intakt ist seit dem russischen Angriff, weiß sie nicht. Der Unterricht geht trotzdem weiter – und er macht Biliana viel Spaß, das ist spürbar.
15. Februar 2022. „Es gibt Krieg und du musst die Kinder in Sicherheit bringen.“ Kurz nachdem Natalias Mann diesen Satz zum ersten Mal ausgesprochen hat, packt Natalia die Koffer. Kleidung, ein bisschen Spielzeug, Proviant, das Nötigste eben. Sie beladen das Auto und verabschieden sich voneinander. Natalias Mann ist Schiffsbauingenieur, er ist manchmal monatelang auf großen Frachtern in den Weltmeeren unterwegs. Auch jetzt wird er einen Job in der Nordsee antreten. Vier Tage lang fährt Natalia alleine mit ihren beiden Kindern nach Rumänien. Auf dem Weg übernachten sie in Hotels. „Ich dachte, da bleibe ich jetzt ein paar Wochen und dann gehe ich zurück“, wird sie später sagen.

„Kaffee mit Milch?“, fragt Natalia und lächelt. Dann holt sie tief Luft. „Tak“, beginnt sie. „Tak“ ist russisch und heißt so viel wie „okay“. Natalia spricht russisch mit ihren Kindern. Wie für viele Menschen in der Südukraine ist das ihre Alltagssprache. „Das war einer der großen Fehler, die wir gemacht haben“, sagt Natalia, „wir waren immer Menschen zweiter Klasse für die Russen und haben unsere ukrainische Identität zu sehr untergeordnet, auch bei der Sprache.“ Sie zeigt eine Landkarte der Ukraine und tippt auf ihre Heimat Cherson, ganz im Süden, etwa eine Stunde vom Schwarzen Meer entfernt. Rundherum, so sagt sie, sind viele Felder, Sonnenblumen, Weizen, Wein. „Wir sind für Putin die Bauern“, sagt sie. Jetzt hat er Cherson, die Stadt von Katharina der Großen, samt fruchtbarer Steppenlandschaft besetzt. „Unser Land hat das schon mehrfach erlebt“, sagt Natalia mit Blick auf die Eroberung durch Nazi-Deutschland, „aber dieses Mal geben die Ukrainer nicht auf.“
24. Februar 2022. Russische Truppen greifen ihren souveränen Nachbarstaat Ukraine an. Kurz zuvor erkannte Russland die so genannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk im Osten der Ukraine als unabhängige Staaten an. Der ukrainische Präsident WolodymyrSelenskyj wendet sich an die Nato-Länder und bittet um Hilfe. Bomben fallen, es sterben Zivilisten. Es beginnt die am schnellsten wachsende Fluchtwelle seit dem Zweiten Weltkrieg. Innerhalb weniger Tage fliehen zwei Millionen Menschen in die Nachbarländer. Natalia Zakutna und ihre beiden Töchter beziehen eine Unterkunft in Rumänien.
Biliana hat Pause. Sie kommt kurz in die Küche und schnappt sich ein Blini, das die Mutter gebacken hat. Dann bringt sie ein Herz in den ukrainischen Nationalfarben gelb-blau, das sie gebastelt hat. Neulich, als sie abends nicht schlafen konnte, habe sie ein Lied gedichtet, erzählt sie. Sie beginnt zu singen. Auf Ukrainisch. Worum es darin geht? „Um uns Menschen“, sagt Biliana, „wir sind Wunder – und wir blühen auf.“ Dann fügt sie traurig hinzu: „Wenn der Krieg vorbei ist, wird alles gut.“
Sorge um ihre Familie ist fast nicht auszuhalten
Alle paar Tage telefonieren sie mit der Verwandtschaft in Cherson. Die Großeltern väterlicherseits, die Oma mütterlicherseits, der Bruder des Vaters mit Familie – sie alle leben nun in dem Haus der Familie. Auch den geliebten Familienhund und die Häschen haben sie dort gelassen. „Da ist es sicherer als in den Apartments direkt in der Stadt“, erklärt Natalia, „außerdem haben wir einen Ofen, Feuerholz und bereits viele Essens- und Wasservorräte angelegt.“ Ihr Mann habe sehr vorausschauend gehandelt, sagt sie. Warum die Großeltern nicht mitgekommen sind? „Viele haben nicht geglaubt, das es Krieg gibt“, sagt Natalia, „und jetzt geht es nicht mehr.“ Die zierliche Frau zuckt zusammen. Die Sorge um ihre Familie ist fast nicht auszuhalten. Ein Schmerz, den Menschen, die in Frieden leben dürfen, vermutlich nicht kennen.
7. März 2022. Natalia und ihre Kinder steigen erneut ins Auto. Dieses Mal ist Deutschland das Ziel. Sie hatten Kontakt mit Maria und ihrem Mann Andreas vom Bodensee. Sie sagen, sie sollen nach Deutschland kommen, vielleicht könne der Mann später nachkommen. Die Freunde kümmern sich um eine Unterkunft für sie. Maria telefoniert Ferienwohnungsbesitzer im Umkreis von Tettnang ab. Bei den Familien Dingler und Kehle in Langenargen wird sie fündig. „Wir haben in unserem Elternhaus eine Ferienwohnung eingerichtet“, sagt Cosima Kehle später, „wir wollten die sowieso gerne an Geflüchtete vergeben, da hat das gepasst.“ Nach einer beschwerlichen Reise über Ungarn und Österreich kommen die Zakutnas an. Ihre Gastgeber haben ihnen ein Willkommensschild gestaltet – auf Ukrainisch.

Die vierjährige Albina steht am Fenster. Was bekommt sie von all dem mit, was gerade passiert? „Sie fragt täglich mehrmals, wann sie ihre Oma wieder sehen kann und wann sie in den Kindergarten darf“, sagt ihre Mutter und beißt sich auf die Lippen. Natalia will stark sein, sie will ihre Kinder von dem Schmerz fernhalten, der sie selbst immer wieder erfasst, durchfährt und nicht mehr abschütteln lässt. Sie sucht Ablenkung von den schockierenden Nachrichten und Bildern aus der Heimat, geht mit den Kindern in die Natur, an den See. „Die Natur heilt die Seele“, sagt Natalia, „aber irgendwas in uns ist trotzdem zerbrochen.“ Broken. Biliana stellt sich neben ihre Mutter und legt ihr den Arm um die Schulter. Die Zehnjährige ist voller Hoffnung.
Die Hoffnung auf ein Leben im Frieden, sie wird den ukrainischen Kindern auch im Online-Unterricht vermittelt. Neulich haben sie alle einen Flashmob im Internet gestartet. „Wenn der Krieg zu Ende ist, gehen wir sofort zurück und bauen die Ukraine wieder auf“, sagt Natalia entschlossen. Und wenn nicht? Daran wollen sie alle im Moment nicht denken.