Frau Stengele, Sie sind seit einigen Monaten die kommissarische Stellvertreterin von Bernhard Oßwald, dem Vorsitzenden des Markdorfer Kunstvereins. Damit sind Sie, wenn auch „nur“ kommissarisch, an die Stelle getreten, die Heide Staiger bisher innehatte. In dieser Funktion wird Ihnen einiges an organisatorischen Leistungen abverlangt. Mich interessiert: Warum engagieren Sie sich so stark, noch stärker als bisher, für den Kunstverein?

Das ist schnell beantwortet. Ich finde, der Kunstverein ist eine tolle Institution. Er ermöglicht den Menschen hier, in einer relativ kleinen Stadt, einen Einblick in künstlerische Positionen zu gewinnen, für den sie ansonsten doch recht weit fahren müssten. Aber das ist nur die eine Seite, warum ich mich einbringen mag. Die andere Seite ist die Lust am Mitgestalten. Es ist die Chance, sich mit künstlerischen Themen auseinanderzusetzen. Sicher, die hat man auch so, auch alleine. Aber in einer Gemeinschaft wie dem Kunstverein, da geschieht das in einem Team. Da kommen mehrere, zum Teil ganz unterschiedliche Perspektive zusammen, da findet ein Dialog statt – und das ist immer spannend, bringt einen weiter.

Haben Sie Beispiele für solche Impulse?

Ja natürlich – zum Teil sind es ja auch die persönlichen Kontakte, die die anderen aus dem Team mit einbringen bei unserer Arbeit. Da ist etwa Ingrid Friedel-Neumann, die uns auf Agnes Keil gebracht hat. Eigentlich wollten wir ja Arbeiten von Agnes Keil, Skulpturen ausstellen im April. Aber daraus ist ja dann nichts geworden. Corona hat die Keil-Ausstellung ebenso verunmöglicht wie unser Ausstellungsprojekt mit Cocio Infestas und Fernando Rascón...

Aber um noch einmal auf die Frage zu meinen Beweggründen fürs Engagement zurückzukommen. Es ist einfach total toll, dass wir vom Vorstand beziehungsweise von den Ausstellungsteams in direkten Kontakt zu den Künstlern kommen. Zum Beispiel bei Agnes Keil. Die arbeitet in einer ehemaligen Grundschule, ein wirklich schönes Gebäude – und in ihrem Garten sind die Skulpturen zu sehen. Solche Atelier- oder Werkstattbesuche vermitteln doch einen unmittelbaren Eindruck: Wie arbeitet der Künstler? Wie geht er vor? Was sind seine jüngsten Projekte. Und bei Agnes Keil kommt dann noch Material und Werkzeug hinzu – der Kran für die schweren Stämme, eine ganze Batterie von Motorsägen. Lauter beeindruckende Geräte, die in ziemlichem Kontrast zur Künstlerin stehen, die eigentlich vom Tanz herkommt – und eine zierliche, ja fast filigrane Person ist.

Frau Stengele, Sie engagieren sich nicht nur für die Kunst – im Kunstverein –, sie unterrichten auch Kunst am Gymnasium des hiesigen Bildungszentrums. Und wenn ich‘s recht sehe, dann sind sie auch selber Künstlerin?

Ja, von der Ausbildung her schon; so will es die Studienordnung. Auf der anderen Seite aber fehlt mir gerade wegen der Arbeit als Kunstlehrerin die Zeit für eigene künstlerische Tätigkeit ...

Das scheint mir aber ungewöhnlich. Viele Kunsterzieher sind doch selbst mit dem Pinsel oder andern Utensilien unterwegs?

Natürlich, die gibt es auch. Aber ich bin wirklich vollkommen ausgelastet mit dem Unterrichten. Außerdem habe ich ja noch ein zweites Fach ...

Sie unterrichten Philosophie?

Ja eigentlich Ethik ...

Und das lässt ihnen dann tatsächlich so gar kein kleines bisschen Zeit für eigene künstlerische Arbeit?

Na ja, ein wenig mach ich schon, aber eher Kleinformatiges; ich zeichne ...

Kein Tag ohne Linie?

Kein Tag ohne Linie! Wobei – in der Schule, da zeichne ich eigentlich immer. Mit Stift und Papier ist wesentlich rascher gezeigt oder erklärt als mit Worten. Aber es ist wirklich so: nach ein paar Tagen ohne Zeichnen leidet schon das Ausdrucksvermögen. Man merkt es sofort.

Und wann werden wir mehr sehen von ihren Werken?

(Schmunzelnd) So schnell nicht – nicht vor meiner Pensionierung.

Warum so zögerlich?

Es handelt sich ja gerade nicht um ein Werk ...

Das verstehe ich jetzt nicht. Sie haben doch gesagt, dass sie beständig zeichnen. Sind Zeichnungen etwa keine Werke?

Oh doch, natürlich können sie das sein. Aber ich sehe da schon einen Unterschied, ob jemand nur sonntags oder nur während seiner sechswöchigen Sommerferien an etwa arbeitet, oder ob er ständig damit befasst ist – und sich motivisch, inhaltlich, meinetwegen auch auf der Ausdrucksseite mit einem bestimmten Thema befasst. Ohne solche Intensität sollte man meines Erachtens nicht von einem Werk sprechen. Es würde der Arbeit irgendwie nicht gerecht.

Sie sind aber streng!

Ja, das muss man auch sein, sonst hat mein kein Kriterium, um zwischen Hobby und ernsthafter künstlerischer Auseinandersetzung zu entscheiden.

Vermitteln sie solche Überlegungen auch im Schulunterricht?

Nicht in Klasse 5, aber Ziel der Kunsterziehung ist es schon, junge Menschen dahin zu führen, dass sie sich differenziert mit Kunstwerken auseinandersetzen können, dass sie ihren eigenen Zugang zu einem Bild, zu einer Skulptur finden ...

Klingt das jetzt nicht beliebig?

Wieso beliebig? Der eigene Zugang soll ja gerade nicht völlig willkürlich sein, sondern begründbar. Und zwar so begründbar, dass ein anderer ihn möglichst weit nachvollziehen kann. Am Ende geht es doch darum, dass überhaupt wahrgenommen wird, welchen Deutungsspielraum ein Kunstwerk dem Betrachter lässt, dass es eine gewisse Offenheit und Unbestimmtheit gibt – anders als etwa in der Mathematik, wo doch das allermeiste recht, recht klar und festgelegt ist. Ein anderer wichtiger Bereich wäre der Zeithorizont von Kunstwerken ...

Das verstehe ich nicht. Meinen sie, wie lange ein Künstler an seinem Bild malt?

Nein, der Zeithorizont ist die Phase, wenn sie so wollen, die Epoche, in die ein Kunstwerk historisch eingebettet ist und die die Arbeit und das Denken des Künstlers mitbestimmt ...

Ach so. Aber was sagt es uns dann heute, wenn wir wissen, dass nach kurz vor Ende und nach dem Ersten Weltkrieg Leute ziemlich abgedrehte Dada-Kunst produziert haben – 100 Jahre danach?

Es sagt uns etwas über den Umgang von Künstlern mit Denkweisen. Es sagt uns aber auch etwas – und das gilt ganz besonders für die Dada-Bewegung – über den Umgang mit den Medien, deren sich die Dadaisten in ganz unterschiedlicher Art bedient haben.

Indem sie mit Zeitungs- mit Plakatschnipseln experimentiert haben?

Indem sie auf Print, auf Fotografie, aufs gesamte Ausstellungswesen – heute würde man sagen: auf die Event-Kultur reagiert haben. Und das, dieser kritische Umgang mit medialen Inszenierungen, das ist es doch, was uns, was gerade junge Menschen, was die Schüler betrifft. Auch wenn sich die Inszenierungen der sich immer weiter modernisierenden Medien verändern.

Und das vermitteln sie den Schülern?

Ich gebe mir jedenfalls Mühe.

Klingt gut.

Ist es auch ...

Gibt es denn noch mehr, was die Schüler im Kunstunterricht fürs Leben lernen, wovon sie später profitieren, auch wenn sie nie wieder einen Farbkasten in die Hand nehmen sollten?

Offenheit.

Offenheit? Erklären sie mir das doch bitte.

Ich komme wieder auf die Mathematik ...

Sie mögen wohl keine Mathematik?

Ganz im Gegenteil: Mathematik finde ich hoch spannend. Was ich sagen will. In unserer Normal-Mathematik, also der, der wir in der Schule begegnen – was an den Hochschulen passiert, steht auf einem ganz anderen Blatt – also in unserer Schul-Mathematik, da gibt es immer richtig und falsch, sehr eindeutige Ergebnisse, zu denen man allerdings auch auf unterschiedlichen Lösungswegen findet. In der Kunst dagegen, da gibt es kein richtig und kein falsch. Allenfalls beim perspektivischen Zeichnen.

Das ist ja prima. Dann können sie allen Schülern immerzu Einsen geben. Außer wenn sie ein Gebäude zeichnen sollen?

So ist es auch wieder nicht. Wir Kunstlehrer tragen schon Vorgaben an die Schüler heran. Zum Beispiel wenn es darum geht eine Grafik zu erstellen. Gefordert ist dann etwa, ein Tier so auf die Fläche zu bringen, dass es die möglichst ausfüllt, nicht bloß als Briefmarke in einer Ecke des Blattes erscheint, sondern formatfüllend. Eine Binnenstruktur soll es auch noch haben, damit es nicht langweilig wird. Wie der Schüler das dann macht, bleibt seine Sache, bleibt seiner Kreativität überlassen.

Können Sie dies Kreativität auch fördern?

Ja, indem ich ermuntere, richtige Wege weiterzugehen, den kreativen Impulsen zu vertrauen, wenn sie so wollen: offen zu sein für Eigenes.

Und damit rennen sie bei den Schülern offene Türen ein?

Eher nicht. Weil Schüler sich sehr stark an Noten orientieren – und in der Schule lernen, ökonomisch zu handeln. Sie wünschen sich oftmals Rezepte, die ohne große Umwege zu einem eindeutigen Ergebnis führen ...

Das es in der Kunst ja nicht gibt?

Dafür gibt es das, was der Schüler selber einbringt, was ganz neu ist.