Die Tragik des Geschehens an einem der Salemer Klosterweiher ist kaum zu überbieten. In einem der relativ flachen, an Schlingpflanzen reichen Teiche ertrinken an einem Sommertag vor 100 Jahren drei Menschen. So zumindest ist es überliefert. Ein unauffälliges Kreuz unweit des Ufers erinnert beim Spitznagelweiher an den dramatischen Vorfall, ohne einen Hinweis darauf zu geben, was damals geschah. Ja, das Kreuz gibt sogar selbst neue Rätsel auf.
Nachkommen treffen sich zum 100. Jahrestag am Unglücksort
Dass zum 100. Jahrestag des Unglücks am 6. Juli jetzt Nachkommen aus Berlin und dem Stuttgarter Raum zusammenkamen, war auf einen kuriosen Zufall zurückzuführen. Weit weg von Salem, im Berliner Segelclub am Wannsee, waren vor einigen Monaten Manfred von Sperber und Judith Hövelborn ins Gespräch gekommen. Von Sperber kam auf seine frühere Tätigkeit in Salem zu sprechen. Ein Stichwort, das bei Hövelborn eine Assoziation auslöste.
„Mir fiel gleich wieder diese Geschichte vom Spitznagelhof ein“, erzählte die Berlinerin beim Treffen mit den Verwandten jüngst in Salem. „Diese Geschichte“, das war das Unglück, bei dem unter anderem der Großvater ihres Mannes und dessen Onkel ertrunken waren. „Das kann doch nicht sein, dass in Berlin jemand den Spitznagelhof kennt“, hatte von Sperber da gedacht: „Doch während meiner Zeit in Salem hatte ich auch von der Geschichte gehört.“

Kontakt zu Kennern der lokalen Geschichte
Von Sperber vermittelte Judith Hövelborn Kontakt nach Salem, unter anderem zu Hubert Volz, der an der lokalen Geschichte interessiert ist. Und so kam es, dass die Familie zweier Toter von 1922 zum 100. Jahrestag nach Salem kam und dort auch mit Hubert Volz und weiteren Salem-Kennern zusammentraf.
Mutter erlebt das Unglück als Siebenjährige mit
Was war vor 100 Jahren geschehen? Auf dem Spitznagelhof, der damals wie heute zum Grundbesitz des Markgrafen von Baden gehört, trug Gutsverwalter Karl Götz die Verantwortung. Er war unter den Toten dieses Julitags. Auch 100 Jahre später rätselten die Nachkommen am Ort des Geschehens, wie es dazu kommen konnte. „Die Familie war traumatisiert von dem Unglück und es war daher lange kein Thema“, erinnerte sich Ernst Hövelborn aus Backnang, der Enkel von Karl Götz und Sohn von dessen jüngster Tochter Lisa. Sie hatte in den 1980er-Jahren ihren Kindern vom Unglück erzählt, das sie als Siebenjährige miterleben musste.
Faulgase? Verletzung? Panik? Bis heute gibt es keine Antwort
„Waren Faulgase im Wasser, die sie bewusstlos werden ließen“, rätselten die Nachkommen. Hatten sich die Badenden verletzt? War Panik im Spiel? Für alles gibt es bis heute keine plausiblen Anhaltspunkte. Manches aus den überlieferten Erzählungen deutet darauf hin, dass alle drei im tiefen Schlick steckenblieben und sich nicht mehr befreien konnten.

Damalige Leiterin der Schule Schloss Salem als Quelle
Was die damalige Leiterin an der Schule Schloss Salem, Marina Ewald (1987-1976), im Unglücksjahr 1922 erfahren und miterlebt hatte, hielt Jahrzehnte später der langjährige Wirtschaftsleiter der Schule, Helmuth Poensgen, in dürren Worten fest. „Karl Götz und sein Praktikant Ow fuhren an einem heißen Sommertag auf den Weiher, um Schlingpflanzen zu entfernen“, heißt es da: „Karl Götz stieg aus dem Boot, um mit der Sichel die Schlingpflanzen zu mähen. Dabei versank er im sumpfigen Untergrund. Johann von Ow wollte Karl Götz helfen und ins rettende Boot ziehen. Bei dieser Hilfsaktion geriet Ow selbst in den Tod bringenden Sumpf.“
Sohn und Mutter hören die Hilferufe
Sohn Otto Götz, der wenige Tage zuvor 13 Jahre alt geworden war, stand derweil mit seiner Mutter Caroline oben auf dem Hügel beim Hof, wo sie wohl die Hilferufe hörten. „Der dreizehnjährige Sohn Otto ließ sich von seiner Mutter nicht zurückhalten“, hatte Marina Ewald das Geschehen beschrieben: „Er schrie: ‚Ich geh mit‘, lief den Hang hinunter und stürzte sich in den Weiher, wo auch er den Tod fand.“ Weiter heißt es: „Nach Ablassen des Wassers sah man die drei Ertrunkenen aufrecht stehend vom Schlamm umhüllt.“

Hubert Volz geht dem Rätsel auf den Grund
Die Geschichte vom tragischen Tod mehrerer Menschen machte schnell die Runde und bewegt manche Salemer bis heute. Auf dem Steinkreuz beim Spitznagelweiher zum Gedenken an den Vorfall sind zwar keine Namen, aber über dem Satz „Ich geh mit“ vier kleine Kreuze eingraviert. In den Erzählungen waren jedoch stets nur drei Namen erwähnt, die auch am Bildstock auf dem Stefansfelder Friedhof stehen: „Karl Götz, der Vater, Otto Götz, der Sohn, und Johann von Ow, der Praktikant.“

Nun wusste Hubert Volz, dass sein Vater Paul stets von vier ertrunkenen Menschen gesprochen hatte. Auch Wilma, die ältere Tochter von Karl Götz und Schwester des verunglückten 13-jährigen Otto, habe stets vier Opfer genannt, erinnert sich Volz. Sein Vater war mit Wilma zur Schule gegangen und Jahre später waren sich ihre Familien im Schwarzwald wieder begegnet. „Das Unglück von 1922 war immer wieder Thema gewesen“, erinnert sich Hubert Volz, der mit seinen Eltern 1960 wieder nach Salem gekommen war.

Diese offensichtliche Diskrepanz schien bislang niemanden beschäftigt zu haben. Viele Wiedergaben der Geschichte fußten auf der Erzählung von Marina Ewald, die von drei Opfern handelte. Doch Hubert Volz ließ die Unstimmigkeit keine Ruhe. Er wollte ihr auf den Grund gehen – und es gelang ihm.
Im Sterbebuch steht die Antwort auf die Frage
Der Salemer verschaffte sich Einblick in das Sterbebuch der Gemeinde. Und siehe da: Dort stehen an diesem verhängnisvollen 6. Juli 1922 vier Namen. Neben den stets Erwähnten findet sich auch ein Johann Scheppele, Praktikant, geboren am 1. Dezember 1895 in Bötzingen. Bei allen Toten habe Bürgermeister Sorg handschriftlich die identische Eintragung gemacht, weiß Hubert Volz: „gestorben im Weiher am Spitznagelhof“. Er kann sich nicht erklären, warum dies zuvor niemanden interessierte.
Auch den Hergang des Unglücks stellt Volz infrage
Auch mit dem vermeintlichen Ablauf des Unglücks hat sich Hubert Volz beschäftigt. Für unglaubwürdig hält er, dass Karl Götz die Schlingpflanzen im Weiher habe mähen wollen. „Das macht für mich keinen Sinn.“ Eher hätten sich die Opfer wohl an einem heißen Tag nach der Arbeit erfrischen wollen. Sie hätten vermutlich nicht schwimmen können, seien vielleicht unvorsichtig gewesen. Dass der Schlick eine Rolle gespielt habe und einer dem anderen habe helfen wollen, sei allerdings sehr wahrscheinlich. Denn dass die Toten im Sumpf feststeckten, ist unstrittig.