Es sind beeindruckende Zahlen, nicht nur für den Taschenbuch- oder Tabletleser: 704 Seiten, 28 mal 25 Zentimeter im Format und das Gewicht beträgt exakt 3802 Gramm. „Ja, ein unangenehm schweres Buch“, sagt der Überlinger Kulturamtsleiter Michael Brunner lächelnd. Und dennoch ist die Chronik „1250 Jahre Überlingen / Eine Zeitreise vom Mittelalter bis zur Moderne“ schon jetzt ein Erfolg, den sich so keiner der Beteiligten vorstellen konnte.

Wissenschaftlich fundiert führt die Chronik, die zum 1250. Jahrestag der urkundlichen Ersterwähnung Überlingens erschien, durch die ...
Wissenschaftlich fundiert führt die Chronik, die zum 1250. Jahrestag der urkundlichen Ersterwähnung Überlingens erschien, durch die Stadtgeschichte. Dennoch gelang es nach Überzeugung des verantwortlichen Teams, ein auch für Laien flüssig und spannend zu lesendes Buch vorzulegen. Der riesige Erfolg des immerhin 3,8 Kilogramm schweren Bandes gibt den Verantwortlichen Recht. Aktuell erschien die zweite Auflage. | Bild: Martin Baur

Erste Auflage war nach vier Wochen ausverkauft

Schon bei der öffentlichen Buchvorstellung im Kursaal Ende November vergangenen Jahres wurden die Vertreter der Stadt und des Meßkircher Gmeiner-Verlags von einem Andrang überrascht, den „Gmeiner so noch nie erlebt hatte“, wie Brunner beschreibt, obwohl der Verlag viel Erfahrung mit anderen Chroniken habe. Kaum vier Wochen später, am 21. Dezember, war die erste Auflage in Höhe von 900 Büchern verlagsseitig ausverkauft.

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Während derartige Stadtchroniken andernorts allenfalls als Repräsentationsgeschenke über die Landentheke gingen, ergänzt Stadtarchivar Walter Liehner, „wurden wir förmlich überrannt: Es ist ein fantastischer Erfolg, was dieses Buch für einen Markt hat“. Das zeige, wie sehr sich die Überlinger für ihre Heimatstadt interessierten.

Sie bilden den Kern des Redaktionsteams (von links): Raphael Wiedemer-Steidinger, Elke Schörnick, Walter Liehner und Michael Brunner.
Sie bilden den Kern des Redaktionsteams (von links): Raphael Wiedemer-Steidinger, Elke Schörnick, Walter Liehner und Michael Brunner. | Bild: Martin Baur

Noch im Januar erteilte die Stadt dem Gmeiner-Verlag den Auftrag zu einer zweiten Auflage in Höhe von 600 Exemplaren. Obwohl der in der weiten Region ausverkaufte Buchhandel schon wieder um die 80 Vorbestellungen an den Verlag geschickt hatte, so Brunner, sei das „nochmals ein Kampf gewesen“. Gmeiner habe auch da wieder ein hohes Risiko gesehen. Vor kurzem wurde diese zweite Auflage ausgeliefert. Für den SÜDKURIER Anlass für ein Gespräch mit dem Chronik-Team.

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Legendärer Exorzismus: Der Heilige Gallus treibt Fridiburga, der Tochter des Überlinger Herzogs Gunzo, den Dämonen aus. Dieser Holzschnitt aus einer im 15. Jahrhundert entstandenen Gallusvita gehört zu den Illustrationen von Johannes Waldschütz‘ Text „Von Herzog Gunzo bis zu den Staufern – Überlingen auf dem Weg zur Stadt“. | Bild: Stiftsbibliothek St. Gallen Cod. Sang. 602, p. 57.

Das Problem mit dem Datum

Der Erfolg hat eine lange Vorgeschichte, die eigentlich schon 2016 begann, beim Besuch im Stiftsarchiv St. Gallen, wo die urkundliche Ersterwähnung Überlingens aufbewahrt wird. Die Verantwortlichen kamen mit der Frage zurück, wie mit den neueren Forschungsergebnissen umzugehen sei: Die Urkunde entstand nicht am 9. August 770, wovon Generationen überzeugt waren, sondern 773. Nach Recherchen, auch in anderen Städten mit Jubiläum, sei dann erstens die Entscheidung für eine Chronik gefallen, beschreibt Stadtarchivar Walter Liehner. Und zweitens: „Wir wurden uns einig, dass wir 2020 das Jubiläum begehen und 2023 die Chronik als Schlussakt der Jubiläumsfeiern haben“, blickt Liehner zurück.

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Das erste große Stadtsiegel von 1251 zeigt den Reichsadler. Es wird im Generallandesarchiv in Karlsruhe aufbewahrt. Das Bild gehört ebenfalls zu den Illustrationen des Aufsatzes von Johannes Waldschütz: „Von Herzog Gunzo bis zu den Staufern – Überlingen auf dem Weg zur Stadt“. | Bild: Generallandesarchiv Karlsruhe 4 Nr. 5802 (Eigentum: Haus Baden). Alle Rechte zur Veröffentlichung und Vervielfältigung beim Generallandesarchiv Baden-Württemberg

Chonik 1250 Jahre Überlingen: Fakten und Hintergründe

Werk soll Neubeginn sein und kein Abschluss

Die wichtigste Frage zum Werk selbst war: Schreibt diese Chronik eine einzelne Person oder entsteht eine Sammlung wissenschaftlicher Aufsätze? „Das Konzept mit einem Autor habe ich völlig abgelehnt“, sagt Kulturamtsleiter Brunner, „mir ist wichtig, dass die Geschichte aus unterschiedlichen Perspektiven geschildert wird“. Seine große Sorge war, dass die Arbeit eines Einzelautors in der Öffentlichkeit falsch wahrgenommen werden könnte – als eine vermeintlich lückenlose Gesamtdarstellung. Dabei dachte der Kulturamtsleiter insbesondere an die Kommunalpolitiker, die in Zukunft über Geld entscheiden: Ein Werk aus einer Feder hätte womöglich den Eindruck erweckt,“jetzt haben wir ja die Chronik, die Geschichtsschreibung ist hiermit abgeschlossen, da brauchen wir auch keine Publikationen mehr.“ Mache man aber durch gezielte Lücken klar, dass die nun vorliegenden neuen Erkenntnisse erst die Basis der Geschichte sind, so Brunner, dann werde das dicke Werk zu einem Neubeginn, statt zu einem Abschluss.

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Legendärer Exorzismus: Der Heilige Gallus treibt Fridiburga, der Tochter des Überlinger Herzogs Gunzo, den Dämonen aus. Dieser Holzschnitt aus einer im 15. Jahrhundert entstandenen Gallusvita gehört zu den Illustrationen von Johannes Waldschütz‘ Text „Von Herzog Gunzo bis zu den Staufern – Überlingen auf dem Weg zur Stadt“. | Bild: Stiftsbibliothek St. Gallen Cod. Sang. 602, p. 57.

Beweise für Überlingen als Kulturstadt

Die Chronik soll auf mehrfache Weise politisch Wirkung zeigen. Als Autor von einem der Aufsätze habe er seine Aufgabe darin gesehen, so Brunner, Überlingen als Kulturstadt zu vermitteln. Der Begriff stehe auch im Vorwort zentral. Denn: „Wir wissen, dass es einflussreiche Personen in Überlingen gibt, die es anders sehen.“ Eine wichtige Aufgabe der Chronik sei auch, solchen Zweiflern durch Fakten zu beweisen, dass sie falsch liegen.

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Die Gred aus der großen Stadtansicht nach 1714 (hinter den Schiffen) war das Zentrum des Handels mit Getreide, Wein und anderen Gütern. Aus Andre Gutmanns Arbeit „Überlingen im 15. und 16. Jahrhundert – Blütezeit einer Reichsstadt“. | Bild: Stadtarchiv Überlingen

Neue Erkenntnisse statt abgeschriebene Zusammenfassungen

Der Schwerpunkt der Chronik liegt auf in jenen Zeiten, in denen Überlingen seine größte Bedeutung hatte: „Wir sind eine ehemalige freie Reichsstadt – wir waren jemand und wir sind auch heute noch jemand in diesem neuen Forschungsbereich Reichsstädtische Stadtgeschichte“, erklärt Stadtarchivar Liehner, „deswegen war uns klar, dass wir Niveau bieten müssen, wissenschaftliche Qualität“.

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So sieht er aus, der im Stadtarchiv aufbewahrte Wappenbrief vom 3. Februar 1528, mit dem Kaiser Karl V. der Stadt „für ihre treuen Dienste und Standhaftigkeit im Bauernkrieg“ eine erweitertes Stadtwappen verlieh: Die „Besserung“ bestand aus der Ergänzung des bestehenden Wappens durch ein Herzschild mit Löwe und einem analog gestalteten Oberwappen ebenfalls mit Löwe, der ein Schwert hält. Der Wappenbrief illustriert Andre Gutmann Artikel über die Blütezeit der Reichsstadt im 15. und 16. Jahrhundert. | Bild: Stadtarchiv Überlingen

Diese Qualität forderte das Chronik-Team von Beginn der Planung an ein. „Wir haben uns gedacht, abschreiben, das geht von vorneherein nicht“, sagt Liehner. Statt Zusammenfassungen aus der vorhandenen Sekundärliteratur erwarteten und bekamen die städtischen Auftraggeber von ihren Autoren Quellenarbeit.

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Das erste großflächige Werbeplakat der sich entwickelnden Tourismusstadt stammt aus dem Jahr 1898. Es zeigt die wichtigsten Sehenswürdigkeiten, der Entwurf stammt von Anton Rechziegel. Eine Illustration des Beitrags „Von der Provinzstadt zur Kur- und Amtsstadt / Überlingen im Großherzogtum Baden“, verfasst von Stadtarchivar Walter Liehner. | Bild: Martin Maier

Als ein Beispiel für solch intensive Quellenarbeit nennt Liehner den Mittelalter-Historiker Andre Gutmann, der das Kapitel „Überlingen im 15. und 16. Jahrhundert – Blütezeit einer Reichsstadt“ verfasste. Über keine Zeit war bisher mehr geschrieben worden. Dennoch habe er noch „unheimlich viele Dinge entdeckt, die man so nicht erwartet hätte“, beschreibt Liehner, „auch zu unserem Stadtwappen, worauf das wohl zurückgeht“. Gutmann habe viele Stunden bei ihm im Archiv verbracht und „viel fotografiert und dann abends zuhause in Freiburg nochmals aufgearbeitet“.

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Anreiz für jungen Wissenschaftler

Durch die Chronik lägen nun unzählige neue Erkenntnisse und Daten vor, sagt Brunner. Das Ziel sei, mit dieser Sammlung an fundierten Facharbeiten auch einen Anreiz gerade für junge Wissenschaftler zu schaffen, die Lücken durch weitere Arbeiten zu schließen.

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Das Motto lautet „Kultur für alle“

Eine strategische Grundsatzüberlegung zur Chronik war dabei, dass sie zwar neues Expertenwissen beinhalte, so Brunner, diese solide Wissenschaftlichkeit sollte aber auf populäre, auf frische Weise vermittelt werden. „Und das hat wirklich funktioniert“, meint der Kulturamtsleiter. Das hätten ihm auch Stadträte im Gespräch bestätigt. Für Kunsthistoriker Brunner ist die Chronik denn auch die gelungene Umsetzung des Mottos „Kultur für alle“, das der revolutionäre Frankfurter Kulturpolitiker Hilmar Hoffmann (1925 bis 2018) 1979 prägte und damit die Kultur aus ihrer elitären Ecke holte.