Warum in den Süden fliegen, wenn der Norden ist so warm. Wir wissen nicht, was ein Waldrapp so denkt. Doch vieles deutet darauf hin, dass es ihm am Bodensee so gut gefällt, dass er auf den anstrengenden Flug über die Alpen in das von vielen Artgenossen geschätzte Winterquartier gerne verzichtet.
Schon im Vorjahr hatte die Überlinger Population das Projektteam um den österreichischen Wissenschaftler Johannes Fritz mächtig auf die Folter gespannt. Fliegt ihr nicht selber, so fahren wir euch hin, hatte er sich bereits im Vorjahr gedacht und brachte eine Gruppe Ende November mit dem Auto nach Bozen.
Bei einem zu späten Abflug hätten es die noch weniger erfahrenen Tiere möglicherweise nicht mehr über die Alpen geschafft. „Wir wollten das nicht ausreizen“, sagte der Biologe damals. Diesmal wollte das Team gar nicht solange warten. Bisweilen scheint auch die Wissenschaft der Natur auf die Sprünge helfen zu müssen.
Ob die Waldrappe die Kassandrarufe des Klimagipfels gehört hatten und sich auf die bevorstehende Warmzeit verlassen wollten? Tatsache ist, dass die Tiere den gedeckten Tisch im Salemer Tal bis zum Wochenende des 6. November gerne genossen. Lediglich ein Trio schien sich noch an die schönen Zeiten im wärmeren Süden zu erinnern.

Das Pärchen Bonsi und Zoppo und der Solist Ciop waren am 26. Oktober die ersten, die sich nach Süden vorgetastet hatten. Dabei waren ihnen alle 13 Jungvögel dieses Jahres gefolgt. „Die Bindung zu den eigenen Eltern lässt bei den Jungvögeln frühzeitig nach“, erklärt Projektleiter Fritz.
Zoppo war mit seinem Pioniergeist bereits im Frühjahr 2021 der erste mutige Rückkehrer an den Bodensee gewesen und machte sich mit den beiden Kollegen und dem Nachwuchs dieses Sommers über das Rheintal auf den Weg in die Berge. Doch bei Thusis am Fuße des Bernardino schien ihnen einen Tag später die Lust zu vergehen, den Alpenhauptkamm zu überqueren.
Nach nur zwei Tagen wieder auf dem Rückflug
Schon am 28. Oktober machte sich der ganze Trupp der 16 Vögel wieder auf den Rückweg und war abends wieder in der vertrauten Runde im Salemer Tal. „In dieser Phase einer jungen Kolonie ist dieses Management aus unserer Sicht begründet und auch berechtigt“, hatte der österreichische Projektleiter bereits im Vorjahr betont. „Später müssen sie dann schon selbst zurechtkommen.“
Sicher hätten Umweltverhältnisse und Temperaturen einen Einfluss auf das Zaudern gehabt, sagte Fritz damals, wollte dies aber keineswegs als Indiz mit prognostischem Wert einordnen. „Das kann nächstes Jahr schon wieder ganz anders sein,“ hoffte er im November 2021. War es aber nicht.

Am Sonntag und Montag packten die früheren Ziehmütter Corinna Esterer und Anne-Gabriela Schmalstieg 14 der älteren erwachsenen Tiere in den Kofferraum und brachten sie über den Brenner nach Sterzing. Bewusst zurück ließen sie das Trio mit den 13 Jungvögeln, die die ganze Route nach Möglichkeit einmal selbst fliegen sollten.
Tatsächlich brachen alle schon am 8. November wieder auf und hielten sich bis Mittwochabend bei Chur auf. Mit dem Animal Tracker zu entdecken sind hier allerdings nur die drei erwachsenen Tiere, da der Nachwuchs in diesem Jahr nicht besendert wurde. Einen Teil der Tiere jedes Jahr zu transportieren, ist natürlich nicht Sinn der Sache und des Projekts.

„Das ist keine nachhaltige Strategie“, erklärt Biologe Fritz. „Wir hätten es viel lieber, wenn die Vögel ganz alleine bis ins Winterquartier fliegen würden.“ Je später der Abflug, desto schlechter ist die Thermik, die zumindest von den Gruppen gerne genutzt wird. Bleibt ihm nur das Prinzip Hoffnung.
„Eine Erwartungshaltung hineinzuprojizieren, das haben wir uns abgewöhnt“, sagt der Projektleiter. Doch die Natur bleibt eben auch eigenwillig. „Für uns ist es gerade richtig spannend, wie es mit der selbstständigen Gruppe weiter geht“, sagt Anne-Gabriela Schmalstieg. „Wir hoffen, dass sie sich bald auf den Weg über die Berge machen.“