Aus dem Vollen schöpfte Germanist, Historiker und Autor Oswald Burger bei seinem stadtgeschichtlichen Vortrag „Boheme am Bodensee – Literarisches Leben in Überlingen“. Seinen dreiteiligen Prolog begann er mit dem Schriftstück, das die Geschichte Überlingens begründete: Der Urkunde im Archiv des Klosters St. Gallen, die wohl „der erste Überlinger“ mit seinem „Scripsi“ unterzeichnet habe und deren Datierung für Komplikationen bei der Datierung des Stadtjubiläums gesorgt hatte. Mit der Legende vom heiligen Gallus, dem Herzog Gunzo und dessen heiratsunwilligen Tochter Fridiburga sowie der Inschrift eines Gedichts von Walafried Strabo in der Silvesterkapelle.

Die Schriften von Chronist Jakob Reutlinger

Keine Literatur im engeren Sinne, doch einen wahren Schatz hinterließ der Überlinger Chronist Jakob Reutlinger (1545-1611) mit seinen Sammlungen und Schriften, die er fast kalligraphisch verfasst hatte. Die in 18 Bände gefassten 9000 Seiten des mehrmaligen Bürgermeisters nannte Burger eine „noch heute eine unschätzbare Quelle für die empirische Kulturwissenschaft“.

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Die Seegrfrörne von 1574 und die Schilderung eines Reiters, der auf Eis und Schnee den See überquerte, sollten im 19. Jahrhundert Grundlage für Gustav Schwabs berühmte Sage werden. Dessen Reiter war es allerdings nicht vergönnt, sich im Überlinger Gasthaus Krone aufzuwärmen, sondern er fiel auf der Schweizer Seeseite tot vom Pferd. Und sie animierte Bildhauer Peter Lenk 1998 zu seiner Skulptur am Landungsplatz, die zu einem Zerwürfnis mit Überlingens wichtigsten Literaten Martin Walser führen sollte.

Die Wocheler-Bibliothek ist das Ergebnis eines Büchernarren

An diesem Ort hatte die Stadt ihrem Pfarrer Franz Sales Wocheler (1778-1848) zum 100. Geburtstag ein Denkmal gesetzt, das inzwischen auf dem Münsterplatz steht mit dessen aufmunternden Leitspruch ‚Seid immer guten Muts‘. Der Büchernarr Wocheler war es, der mit seiner Schenkung von 10 000 Bänden die Leopold-Sophien-Bibliothek begründete, darunter eine Erstausgabe von Schillers „Wilhelm Tell“ mit handschriftlichen Anmerkungen. Überlingen hätte guten Grund, regte Burger an, diesen Fundus für literarische Forschungen umzubenennen in Franz Sales-Wocheler-Bibliothek. Schließlich habe das badische Großherzogpaar Leopold und Sophie diese Sammlung nie eines Blickes gewürdigt.

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Von einer „Boheme am Bodensee“, wie sie Manfred Bosch in seinem gleichnamigen Buch von 2007 beschrieben hat, konnte man so richtig erst in den 1920er-Jahren sprechen. Dazu gehörten unter anderem Bruno und Lis Goetz sowie Robert und Margarete Binswanger, die in der Rehmenhalde 1923 das „Haus am Regenbogen“ bauten und damit die Keimzelle einer Künstlerkolonie schufen, über die Hansjörg Straub am 24. September detailliert sprechen wird. Auf der anderen Seite der Stadt verfasste Leopold Ziegler seine religionsphilosophischen Schriften, die nach Oswald Burger „weniger in die Breite als in die Tiefe wirkten“ und am Landungsplatz dichtete Friedrich Georg Jünger.

Drei Fragen an den Referenten Oswald Burger

Ein neues Kapitel schlug Eugen Assmann 1950 auf, als er hier den Bodenseeclub gründete, der später international als IBC rund um den See ausstrahlen sollte. Assmann war es auch, der bei der Stadt 1954 die Vergabe eines Bodenseeliteraturpreises anregte. Ihn sollte 1967 Überlingens berühmtester Literat Martin Walser erhalten, der ein Jahr später in Nußdorf am See seinen nächsten Schaffensabschnitt beginnen sollte. Welch große Wirkung Walser von hier aus unter anderem als Förderer junger Schriftsteller hatte, zeigt sich bis heute in der Literaturstiftung Oberschwaben und im lebendigen „Forum Allmende“, das in diesen Tagen eine Zusammenkunft in der Stadt hatte.

Bild 1: Husarenritt durch Geschichte des schriftlichen Worts
Bild: Hanspeter Walter

Noch sei die Literatur hier auch heute gefragt. Dies zeige sich, so Burger, in der 20-Jährigen Erfolgsgeschichte des WortMenüs von 1999 bis 2019 und in der Resonanz auf die die lange Nacht der Bücher, die Kulturamtsleiter Michael Brunner 2003 ins Leben gerufen hatte. Burger beendete seinen kurzweiligen Husarenritt durch die Geschichte des geschriebenen Wortes nicht ohne Appell an die Verantwortlichen, sich dieser Geschichte würdig zu erweisen und der Kultur die ihr gebührende Unterstützung nicht zu versagen.