Der psychologische Betreuer, der vor dem Landgericht Konstanz angeklagt wurde, weil er seinen Betreuten jahrelang zu sexuellen Handlungen gezwungen haben soll, muss nicht ins Gefängnis. Das Urteil des Vorsitzenden Richters Joachim Dospil lautete am Ende des zweiten Verhandlungstages: Eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren, die zur Bewährung ausgesetzt wurde, die Bewährungszeit beträgt drei Jahre. Hinzu kommt eine Geldstrafe über 2000 Euro.
Geklärt werden musste am zweiten Prozesstag, ob der 58-jährige Betreuer aus dem westlichen Bodenseekreis das Opfer zu den sexuellen Handlungen mit Drohungen gezwungen hat – oder ob es von beiden Seiten aus einvernehmlich war. Der Angeklagte hatte bereits bei der ersten Verhandlung bestätigt, dass es zu sexuellen Handlungen gekommen ist. Aber war Gewalt im Spiel?
1. Das Gutachten
Zu Beginn sollte das Gutachten der Diplom-Psychologin Anna Beckers für Klarheit sorgen. Laut ihr hatte das Opfer, das in der Vergangenheit mit starken Alkoholproblemen zu kämpfen hatte, Angst, wieder in die Psychiatrie zurückkehren zu müssen. Der 67-Jährige könne, auch wenn er laut Beckers zweifellos einige Gedächtnislücken habe, sehr gut schildern, warum er sich auf die sexuellen Handlungen einließ: „Er hat diesen Wunsch, eigenständig zu leben und wollte die Wohneinrichtung verlassen.“
Freiwillig eingelassen habe sich das Opfer auf seinen Betreuer nicht. Auffällig sei, dass sich der 67-Jährige an die sexuellen Handlungen besser erinnere als an mutmaßliche Gewalthandlungen. Ob es zu Gewaltvorfällen gekommen war, sei „zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr eindeutig zu sagen“, so die Diplom-Psychologin. Der Gedächtnisablauf sei beim Opfer extrem unstrukturiert. „Daraus entsteht ein mehrschichtiges Lügenkonstrukt“, erklärt Beckers. Der 67-Jährige würde bei seinen erfundenen Geschichten davon ausgehen, dass diese stimmen.
Für sie gebe es keine Zweifel daran, dass seine Aussagetüchtigkeit eingeschränkt ist. Seine Wahrnehmungsfähigkeit sei aber trotzdem gut. „Das zeigen auch Vorbefunde eindeutig.“ Die Diplom-Psychologin führte aus, dass es keine Hinweise gibt, dass der 67-Jährige in der Bewertung der Ereignisse große Schwankungen habe. Seine Emotionen seien stabil.
2. Die Plädoyers
Die Staatsanwältin forderte keine Freiheitsstrafe. Aus ihrer Sicht seien gewalttätige Handlungen des Angeklagten nicht nachweisbar. Nur das Opfer habe diese geschildert. Und dabei habe der Mann sich mehrmals widersprochen und falsche Dinge gesagt. „Man weiß nicht, ob Gewalt oder Drohung im Spiel waren“, sagte die Staatsanwältin.
In Bezug auf den Paragrafen 174c erklärte die Staatsanwältin, dass der Angeklagte das Betreuungsverhältnis eindeutig ausgenutzt habe. Die Schwere des Übergriffes sei erniedrigend. Aber warum forderte sie dann nur eine Bewährungsstrafe? Für den Angeklagten sprechen seine Einsicht und, dass er keine Vorstrafen hat. Zudem liegen die Taten Jahre zurück, die vergangenen Jahre seien also für ihn sehr belastend gewesen. „Was er hier erlebt hat, reicht ihm fürs Leben“, sagte sie. Auch ein Berufsverbot sei nicht notwendig: „Von weiteren Taten gehe ich nicht aus.“
„Ich sehe keine Wiederholungsgefahr. Ich glaube, er hat daraus gelernt.“Verteidiger
Der Verteidiger betonte in seinem Plädoyer, dass man die Aussagen des Opfers „nicht für bare Münze nehmen“ könne. Zu sehr würden sie schwanken. Er forderte Freispruch. Das Opfer sei psychisch krank. „Ich unterstelle ihm gar keine bösen Absichten. Aber eine Gewaltanwendung meines Mandanten kann ich hier nicht erkennen.“ Die Forderung einer Bewährungsstrafe könne er durchaus nachvollziehen, sagte der Verteidiger. „Ich glaube, eine Bewährungsstrafe ist angemessen, wenn man den Paragrafen 174c bejaht. Aber: „Er hat das alles eingeräumt und gestanden, dass es unprofessionell war.“ Er habe sich zuvor nie etwas zu Schulden kommen lassen, seine Sozialprognose sei sehr gut. „Ich sehe keine Wiederholungsgefahr. Ich glaube, er hat daraus gelernt.“
3. Das Urteil
Bevor Joachim Dospil das Urteil verkündete, wiederholte der Angeklagte, dass sich die Ereignisse so abgespielt haben, wie „ich sie geschildert habe. Ich bin immer davon ausgegangen, dass es einvernehmlich war. Ich habe ihn nicht vergewaltigt“.
Für den Vorsitzenden Richter sei die zentrale Frage gewesen, ob der Angeklagte dem mutmaßlichen Opfer gedroht hat oder ob sich der Betreute einfach nur bedroht fühlte. An dieser Stelle sei es rechtlich eben nur ein sexueller Missbrauch, so Dospil. Im Zweifel müsse man hier für den Angeklagten entscheiden. Dass er das Betreuungsverhältnis ausgenutzt habe, sei offensichtlich.
Dospil und seine Kollegen hätten sich gefragt, ob jemand etwas davon habe, wenn der Angeklagte ins Gefängnis muss? „Da sind wir zu der Entscheidung gekommen, dass die Bewährung gerade noch vertretbar ist.“ Die Taten seien durch seine Bisexualität zu begründen. Auch ein Berufsverbot müsse man nicht aussprechen. „Ich glaube, sie haben ihre Lehren daraus gezogen“, sagte er abschließend in Richtung des Angeklagten. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Bis Montag, 3. August, hat der Angeklagte die Möglichkeit, Einspruch einzulegen.