Von 2007 bis 2017 war der Angeklagte psychologischer Betreuer des mutmaßlichen Opfers. Der heute 58-jährige Mann bestätigte zum Prozessauftakt am Landgericht Konstanz sexuelle Handlungen mit dem 67-Jährigen im Raum Überlingen, betont aber: „Es gab niemals eine Drohung, Gewalt oder Erpressung.“ Anders schilderte es das mutmaßliche Opfer, das laut Staatsanwältin nicht homosexuell ist: „Er hat mich unter Druck gesetzt.“ Am 27. Juli sollen die Aussage einer weiteren Zeugin und das Gutachten Aufschluss geben.

Ein Urteil ist zwar noch nicht gefallen, jedoch konnte der Vorsitzende Richter Joachim Dospil im Prozess wegen Vergewaltigung eines Mannes in mindestens fünf Fällen zumindest wichtige Hinweise sammeln.

Staatsanwältin: „Sexuelle Handlungen auf erniedrigende Art und Weise“

Dem 58-jährigen Angeklagten wird vorgeworfen, den mittlerweile 67 Jahre alten Mann ab 2013 im Raum Überlingen zu sexuellen Handlungen gezwungen zu haben – in mehreren Fällen. Die Staatsanwältin sprach von sexuellen Handlungen auf erniedrigende Art und Weise. Er habe das Opfer, so die Anklage weiter, unter anderem aufgefordert, auf die Knie zu gehen, ihm die Schuhe und Füße zu küssen, ihn oral zu befriedigen sowie seinen Urin zu trinken. Zudem wies die Staatsanwältin auf die Heterosexualität des 67-Jährigen hin.

Abhängigkeitsverhältnis zwischen den Männern

Das Besondere am laufenden Prozess ist die Beziehung zwischen den beiden Beteiligten, es bestand ein Abhängigkeitsverhältnis: Das mutmaßliche Opfer war im Tatzeitraum viele Jahre in psychologischer Betreuung beim Angeklagten.

„Ja, ich möchte etwas sagen“, antwortete der 58-Jährige gleich zu Beginn auf die Frage von Joachim Dospil, ob er sich zu den Vorwürfen äußern wolle. Das tat er auch: Der Mann aus dem Bodenseekreis, der laut eigener Aussage seit 27 Jahren verheiratet und bisexuell orientiert ist, gestand, dass es mit dem angeblichen Opfer zu sexuellen Handlungen gekommen sei.

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Angeklagter gesteht Unprofessionalität ein

2007 habe er den heute 67-Jährigen kennengelernt, zum ersten sexuellen Kontakt sei es 2013 gekommen. Der Angeklagte gab zu, dass es „vollkommen unprofessionell und überhaupt nicht in Ordnung“ sei, mit einem Betreuten Sexualkontakte einzugehen. Er betonte mehrfach, dass er dies sehr bereue. Bei seinen Ausführen zitterten seine Hände, er war sichtlich angespannt. „Ich weiß nicht, welcher Teufel mich da geritten hat“, sagte er insgesamt dreimal. Er sagte, dass er vom Opfer mehrmals versetzt worden sei, stellte dann aber klar: „Es gab niemals eine Drohung, Gewalt oder Erpressung.“

„Es hat beiden gefallen“

Sein Betreuter habe auf seine Nachfrage immer wieder gesagt, dass es nicht passiert wäre, wenn er selbst es nicht gewollt hätte. „Es hat beiden gefallen“, sagte der mutmaßliche Täter. Es sei ein Verhältnis mit Dominanz und Unterwerfung gewesen, ein Spiel zwischen ihm und dem mutmaßlichen Opfer. Gewalt habe niemals eine Rolle gespielt. „Ich dachte immer, ich hätte mit ihm eine verwandte Seele gefunden, welche dieselben Neigungen hat“, ergänzte der Angeklagte.

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„Er hätte sich wehren können“

Außerdem habe der 67-Jährige mehrere Male die Chance gehabt, die Betreuung abzubrechen. Dies wäre für das mutmaßliche Opfer kein Problem gewesen: „Zudem hätte er sich wehren können, er ist deutlich kräftiger als ich.“ Warum das mutmaßliche Opfer die sexuellen Handlungen zur Anzeige gebracht hat, könne er sich nicht erklären: „Ich hätte damit niemals gerechnet.“

Mutmaßliches Opfer: „Ich wurde von ihm unter Druck gesetzt“

Das mutmaßliche Opfer wollte zunächst nicht über die sexuellen Handlungen sprechen. „Ich habe mir die Sachen nicht gemerkt, weil ich mir sie nicht merken wollte.“ Als Joachim Dospil ihn darauf aufmerksam machte, dass er ohne seine Aussagen kaum ein Urteil fällen könne, sprach der 67-Jährige dann doch: „Ich wurde von ihm unter Druck gesetzt. Es ist über Jahre regelmäßig passiert, etwa einmal im Monat.“

Bei Treffen ging es nach kurzem Gespräch immer schnell

Bei den Treffen mit seinem Betreuer sei es nach einem kurzen Gespräch immer schnell gegangen. Der Angeklagte habe immer zu ihm gesagt: „Du weißt ja Bescheid, oder?“ Zu den meisten Fällen sei es in einer Wohneinrichtung für Senioren im westlichen Bodenseekreis gekommen. Bis auf kurzzeitige Ausnahmen – beispielsweise hatte er 2013 einige Monate eine Wohnung in Überlingen bezogen – wurde der Mann in dieser Einrichtung versorgt. Sein Betreuer, der Angeklagte, habe ihn regelmäßig besucht.

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Er habe sich nicht gewehrt, weil er die Wohneinrichtung verlassen wollte

In der besagten Einrichtung sei er „kein freier Mensch“ gewesen, sagte der 67-Jährige. Aus diesem Grund habe er sich nicht gewehrt gegen den Angeklagten. „Ich hätte ihn mit einem Schlag töten können. Ich weiß, was ich für eine Kraft habe. Ich habe mich aber nicht geweigert, es zu tun, weil ich die Einrichtung verlassen wollte.“

Richter vertagt Sitzung, weil Opfer verwirrt scheint

Ein verwirrtes Gesicht zog die Staatsanwältin, als der 67-Jährige ihre Frage, ob er es dem Angeklagten nicht gesagt habe, dass es ihm nicht gefällt, mit „Nein“ beantwortete. Weil das Opfer im Anschluss der Gutachterin weder den Namen seines Enkelkindes noch das richtige Datum nennen konnte, wurde die Sitzung von Joachim Dospil auf Montag, 27. Juli vertagt.

Sexueller Missbrauch von Männern noch immer ein Tabu-Thema

Nicole Schäfer arbeitet als Diplom-Sozialpädagogin bei Morgenrot, einer Beratungsstelle in Überlingen gegen sexuellen Missbrauch für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene.

  • Wenige Angebote für betroffene Männer: Die Kontaktstellen für Männer, die sexuell missbraucht wurden, sind rar: „Es gibt kaum direkte Anlaufstellen für betroffene Männer. Die Hilfsangebote sind in diesem Bereich begrenzt“, sagt Nicole Schäfer. Doch was machen betroffene Männer dann, die über das Erlebte sprechen wollen? Nicole Schäfer therapiert bei Morgenrot zwar keine Männer, glaubt jedoch: „Sie versuchen es alternativ bei Lebensberatungsstellen.“ Iris Hannig, die als Psychotherapeutin bei der Opferhilfe Hamburg arbeitet, sagte gegenüber dem Nachrichtenmagazin Stern: „Wenn sich bei uns ein gewaltbetroffener, Schutz suchender Mann meldet, können wir ihm meistens nur sagen, dass es uns Leid tut, wir aber auch nicht wissen, wo er hingehen kann, um Schutz zu erhalten.“
  • Es wird kaum darüber gesprochen: Nicht nur die betroffenen Männer schweigen oft jahrzehntelang. Auch diverse Zeitungsartikel machen deutlich: Übergriffe und Vergewaltigungen von Männern sind in der Gesellschaft noch immer ein Tabu-Thema. Aber warum ist das so? „Es ist schwierig zu sagen. Aber ich kann mir vorstellen, dass Männer, die sich als Missbrauchsopfer outen, nicht ernst genommen werden“, sagt Nicole Schäfer. Das habe etwas mit Scham, mit dem Männlichkeitsgefühl zu tun. Die Hemmschwelle, sich zu outen, sei bei Männern oftmals höher.