Wer das „Galgenhölzle“ betritt, den empfängt der Geruch von kaltem und warmem Zigarettenrauch. Wie der Geist alter Tage scheint er im Raum zu liegen und sich mit dem frischen Qualm der Gäste zu vermengen, die gerade an den Tischen sitzen. Alter und junger Rauch hängt in der Überlinger Kneipe. Der Atem durchzechter Abende, den die Wände in die Luft abgeben. Seit über 45 Jahren dringt der Rauch in die Holzwände, ins Parkett und die Polster ein. Fast 20 Jahre stand Oliver Haarmann hinterm Tresen, tratschte mit den Gästen, zapfte Bier, mischte Longdrinks. Im Lokal gehört er selbst fast schon zum Mobiliar. Sogar als Jugendlicher war er am Wochenende schon im Galgen, erzählt er. Ab 1. Januar 2025 ist er der neue Pächter und Inhaber der Kneipe.

Oliver Haarmann kennt den „Galgen“, nun ist er auch für ihn verantwortlich.
Oliver Haarmann kennt den „Galgen“, nun ist er auch für ihn verantwortlich. | Bild: Rasmus Peters

Vom Verwaltungsfachangestellten zum Wirt

2006 begann Haarmann als Kellner. Drei Jahre später wurde er Betriebsleiter, schließlich Geschäftsführer und Mitgesellschafter. Gebürtig kommt er aus dem Emsland. Seine Mutter zog mit ihm zurück in ihre Heimat Überlingen, als er drei Jahre alt war. In der Überlinger Stadtverwaltung machte er die Ausbildung zum Verwaltungsfachangestellten. Haarmann leistete anschließend Zivildienst und tauschte den Büro-Flurfunk schnell gegen den Kneipenplausch. „Es ist mehr Abwechslung“, begründet Haarmann. „Man bekommt viel mit, hört viele Geschichten, Klatsch und Tratsch.“ 2015 lernte er im Galgen seine Frau kennen. Inzwischen haben sie zwei Töchter, sieben und fünf Jahre alt.

Michael Jeckel (links), seit über vier Jahrzehnten Wirt des Galgenhölzle und sein Nachfolger Oliver Haarmann. Das Bild entstand Ende ...
Michael Jeckel (links), seit über vier Jahrzehnten Wirt des Galgenhölzle und sein Nachfolger Oliver Haarmann. Das Bild entstand Ende August 2024. | Bild: Rasmus Peters

Als ihm der Galgen-Inhaber Michael Jeckel sagte, er wolle aufhören, er suche einen Nachfolger, ob Haarmann übernehmen wolle, habe er nicht lange überlegen müssen. Er sagt: „Es macht mich stolz, so etwas Schönes weiterzuführen.“

Generationenhaus Galgen

Er mag das Ambiente, das Urige, dass sich hier Jung und Alt begegnen. Er zieht an seiner E-Zigarette. „Generationen treffen sich hier“, erzählt er. Kürzlich haben sich Großeltern, Eltern und Kinder getroffen – sie saßen an verschiedenen Tischen, es war Zufall, dass sie dasselbe Ziel hatten. Als der Galgen im Februar 1979 eröffnete, war Haarmann noch nicht geboren.

Durch die eigene Biografie laufen

Wenn die Kneipe an Haarmann übergeht, ist Uwe Kleinhans im Ruhestand. 67 Jahre alt ist er. Zusammen mit Noch-Inhaber Michael Jeckel hat er die Kneipe aufgebaut, erzählt Kleinhans. Jeckel und er kennen sich seit 1974. Im Schlafsack haben sie an der Bar übernachtet, um das denkmalgeschützte Haus auf den Kneipenbetrieb vorzubereiten. Mit dem Presslufthammer durften sie nicht arbeiten, also hoben sie den Treppenabgang mit Schaufel und Pickel aus, um die Kneipe mit dem Keller zu verbinden, schildert der Wirt.

Die Rolling Stones mag Kleinhans wegen ihrer handgemachten Musik, wie er sagt.
Die Rolling Stones mag Kleinhans wegen ihrer handgemachten Musik, wie er sagt. | Bild: Rasmus Peters

Viele seiner Gäste kennt er, seit sie im Kinderwagen lagen. Und nach dem Brand im April 1981 habe jeder etwas von sich hier untergebracht, erzählt er. Die Leute haben ihre Speicher durchwühlt. „Meine Mutter hat einem Bauern in Deggenhausertal noch ein Schild abgeschwatzt“. Heute steht es unter der Decke. Auch eine Säge seines Großvaters wurde Teil der Dekoration. Gelernt hat Kleinhans Werkzeugmacher – wie Haarmann wurde auch er Wirt. „Meine beiden Töchter sind hier quasi aufgewachsen“, sagt Kleinhans und lächelt stolz. Nun haben sie selbst Kinder. Ein Enkel hilft auch schon gelegentlich aus.

Von Rolling Stones zu Spotify

Früher gab es mehr Livemusik. „Die Bands waren aber noch mit Essen und Trinken als Gage zufrieden“, sagt Kleinhans. Überhaupt mag er die Musik von früher lieber, besonders die Rolling Stones und ihre handgemachte Musik. 17 Mal war er auf Konzerten der Band. Doch abends kommen die Jüngeren. Dann versucht er, die Musikrichtung anzupassen. Die neuen Stile nennt er schlicht „Spotify“.

Eine Wohnungstür als Theke

Nicht nur durch seine Anwesenheit über Jahrzehnte hat sich Kleinhans im Galgen verewigt. Da die alte Theke den Flammen zum Opfer fiel, wurde aus seiner alten Wohnungstür der aktuelle Tresen gezimmert. In der Wohnung lebt er noch heute – allerdings mit neuen Türen.

Uwe Kleinhans hat mit dem bisherigen Pächter Michael Jeckel die Kneipe mitaufgebaut. Das Holz des Tresens kommt von seinen Türen seiner ...
Uwe Kleinhans hat mit dem bisherigen Pächter Michael Jeckel die Kneipe mitaufgebaut. Das Holz des Tresens kommt von seinen Türen seiner Überlinger Wohnung. | Bild: Rasmus Peters

Hinter den Geldscheinen an der Wand verbirgt sich auf einem Stück Holz die Aufschrift „Kerbholz“. Auch das ist ein Teil seiner Tür. Darauf standen früher die Namen der Gäste, die ihre Schulden nicht beglichen. Nur: Die Galgen-Gästen wollten wohl gerne ihren Namen dort lesen. Weil das gesetzlich als öffentliche Anprangerung untersagt wurde, hinterlassen die Besucher nun einen Geldschein, den sie von ihren Reisen mitbrachten, um aufs Kerbholz zu kommen.

Einer kommt, einer geht

„Als Wirt ist man Seelsorger, Pfarrer, Kumpel“, beschreibt Kleinhans seine Arbeit. Wird er sie vermissen? „Ja, logisch, ich habe hier mehr als die Hälfte meines Lebens verbracht.“ Ausgleich sucht er als Rentner in der Natur, auf der Jagd, beim Pilze- oder Kräutersammeln – und natürlich bei den Enkeln. Wenn Uwe Kleinhans aufhört, verlässt eine Koryphäe seine Wirkungsstätte, so bezeichnet ihn Haarmann. Der eine kommt, der andere geht – der Galgen gleicht einem Generationenhaus, egal ob für Mensch, Musik oder Rauch.