Sommer in den Großstädten: In Freiburg, Zürich und Konstanz wehen die Regenbogenfarben bis in den September, queere Menschen ziehen mit Liebesbotschaften und Dragshows durch die Straßen. Doch zwischen den bunten Punkten auf der Landkarte verliert sich das schillernde Rauschen, auf dem Dorf bekommt man davon nur wenig mit. Eine Gruppe Wutöschinger will das ändern und am 30. August zum ersten Mal öffentlich Farbe bekennen.
„Ei ganz schön bunter Haufen“ als Organisator
Um 14 Uhr auf dem Platz vor der Alemannenhalle soll die Kundgebung anlässlich des Christopher Street Days, kurz CSD, stattfinden. Eine Rede von Markus Meßmer, einem der Organisatoren, ist schon bestätigt. Auch einige Gemeinderäte und Bürgermeister Rainer Stoll werden anwesend sein.
Eine klassische Parade mit Umzug soll es aber zumindest in diesem Jahr noch nicht geben. Schließlich sei das Ganze privat organisiert, sagt Markus Meßmer. Sein Freundeskreis, „ein ganz schön bunter Haufen“, feiert den CSD sonst immer privat, dieses Jahr haben sie sich entschieden, der Veranstaltung einen öffentlichen Rahmen zu geben.
Viele bunte Gesichter
Doch die Gruppe verlegt nicht nur die Feier vom Garten auf den Hallenplatz, sie trägt auch etwas sehr Persönliches nach außen. Viele queere Menschen hängen in den eigenen vier Wänden Pride-Flaggen auf. „Pride“ heißt übersetzt Stolz – die bunten Fahnen erinnern daran, dass man sich nicht für seine Art zu sein und zu lieben schämen muss. Oft ist das das Ergebnis eines langen Wegs zur Selbstakzeptanz und etwas sehr Persönliches.
Seit drei Monaten hängen zwei solcher Flaggen, die Regenbogen- und die Trans-Flagge, an Meßmers Balkon, wo sie jeder sehen kann. Das sei auch gut so, meint er: „Es geht darum, sichtbar zu sein. Viele Menschen sehen die Flaggen nur in den Medien und fragen sich: ‚Was soll das sein?‘“ Den Menschen Gesichter zum Regenbogen zu geben – das sei auch bei der Kundgebung das Ziel.
Auf dem Dorf gebe es laut Meßmer in puncto Sichtbarkeit einen großen Vorteil: Anders als in der Stadt, wo Flaggen und Gesichter sich in der Anonymität verlieren, kennt hier jeder jeden. Der CSD in Wutöschingen solle zeigen, dass LGBTQI+ keine politische Ideologie sei.
Denn queere Menschen sind Nachbarn, Freunde, Geschwister und Vereinsmitglieder. Solche Berührungspunkte schaffen Raum für Dialog, sagt Meßmer: „Dann hat man jemanden, den man fragen kann, wie ist das überhaupt, was bedeutet das. Dann kommt man ins Gespräch. Und wenn man miteinander spricht, dann werden Ängste und Vorurteile abgebaut.“
Vater, Mutter, Kind
Auf der anderen Seite von Geschlechterrollen und Vorurteilen stehen oft Kinder und Jugendliche, die früh lernen, dass sie „irgendwie nicht reinpassen“. Meßmer erinnert sich, dass er schon im Kindergarten bemerkte, dass er anders ist: „Man spielt Mama, Papa, Kind und ich habe mich immer gefragt ‚Warum kann ich nicht auch ein bisschen Mama sein?‘“
In der Pubertät sei der gesellschaftliche Druck immer größer geworden, sich auf eine bestimmte Art zu kleiden und zu verhalten – möglichst männlich rüberzukommen: “Da war diese Angst, dass man alle verliert. Was werden Mama und Papa sagen? Schicken sie einen weg? Brechen sie den Kontakt ab?“ Letztlich sei es nicht so schlimm gewesen.
Gruppe will ein Vorbild sein
Ein CSD in der Nähe oder sogar im eigenen Dorf hätte diesen Prozess aber sicher einfacher gemacht, sagt er. Die Gruppe, die hinter dem CSD in Wutöschingen steht, wolle ein Vorbild sein, für jeden, dem dieser Weg noch bevorsteht. Denn eine Dorfgemeinschaft, die Regenbogenflaggen feiert, sei auch eine, die den Jüngeren zeige, „dass sie nicht falschliegen, wenn sie so fühlen“.
Auch im Erwachsenenalter stünden queere Menschen immer wieder vor der Entscheidung, sich zu outen. Schon ein Smalltalk könne zur Hürde werden, weil man abwägen müsse, wie viel man preisgibt. „Man weiß nie so ganz, wie das Gegenüber reagiert. Das Private kann immer zur Angriffsfläche werden.“
Verstecken ist keine Option
Solche Angriffe nehmen in letzter Zeit wieder zu: Meßmer und sein Freundeskreis bemerken, dass „Dinge wieder gesagt werden, die bis vor Kurzem gar nicht gingen“. Mit der AfD sitzt eine Partei im Bundestag, die die Ehe für alle am liebsten wieder abschaffen würde und deren Parteimitglieder queere Menschen als ‚pädophil‘ und ‚Satansbrut‘ bezeichnen oder direkt die Wiedereinführung der Gefängnisstrafe fordern. Und als Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU) ausgerechnet dieses Jahr entschied, die Regenbogenflagge nicht am Bundestag zu hissen, erhielt sie von Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) Zuspruch: Der Bundestag sei „ja nun kein Zirkuszelt“.
Die erkämpfte Gleichberechtigung sei fragil, das zeigt sich nicht nur im Bundestag, sondern auch auf den Straßen. Rechtsextreme Gruppen organisieren immer wieder Gegendemos zu CSDs, skandieren Hass-Parolen und gehen gewalttätig auf queere Menschen los. Allein 2024 gab es 55 gezielte Angriffe auf CSDs.
Wegducken ist keine Option
Ein bisschen Respekt, dass die „falschen Leute“ kommen könnten, hätten Markus Meßmer und seine Freunde zwar schon. Aber sich wegzuducken, sei keine Option. Gerade jetzt sei es umso wichtiger, Haltung zu zeigen, laut zu werden und den Rechten nicht das Ruder zu überlassen. Denn ein Blick in die Geschichte zeige: „Menschenrechte und Demokratie sind nicht selbstverständlich, sie wurden erkämpft und erfordern einen dauerhaften Einsatz.“
Von der „Mitte aus dem Dorf“ erwarte Meßmer keine negative Reaktion auf den CSD in Wutöschingen: „Die kennen uns und wissen uns als Teil der Gesellschaft zu schätzen.“ Und die Veranstaltung dürfe jeden ansprechen, denn es gehe auch um den Erhalt der Demokratie – und das gehe schließlich jeden etwas an.