Frau Böger, welche Bedeutung hat das Ehrenamt Ihrer Meinung nach in der Gesellschaft?
Ein Ehrenamt bereichert uns, bringt uns zusammen und gestaltet unsere Gesellschaft mit. Es ist notwendig, um schnell individuell und unkonventionell auf Situationen wie Gewässerverschmutzung (Rhine-Cleanup), Erderwärmung (Baumpflanzaktion, Stadtradeln), Flüchtlinge (ehrenamtliche Paten) oder auf die Pandemie (Einkaufsservice) reagieren zu können. Wenn etwas fehlt, gleicht das Ehrenamt das oft aus. Auch Vereine und Kultur haben oft nur durch Ehrenämter eine Chance.
Was treibt Sie an, neben all den alltäglichen Aufgaben noch diverse Ehrenämter zu übernehmen?
Ich habe in dieser Beziehung schon mit 14 Jahren sehr schöne Erfahrungen machen können. Damals besuchte ich oft das Flüchtlingsheim in Konstanz und spielte mit den Kindern, nahm sie mit auf Ausflüge. Heute kann ich sagen, es bereichert und inspiriert mich. Es gehört zu meinem Leben. Ich finde es toll, dass in Baden-Württemberg durchschnittlich fast jede zweite Person über zehn Jahre ehrenamtlich engagiert ist. Wir sind das Bundesland mit den meisten Ehrenamtlichen. Da sind wir in Küssaberg sicher gut mit dabei.
Wie kam es zu Ihrer Entscheidung, sich für den Gemeinderat aufstellen zu lassen?
Von alleine wäre ich wahrscheinlich nie auf die Idee gekommen, mich aufstellen zu lassen. Ich wurde damals gefragt. Manchmal erkennt das Umfeld eher Fähigkeiten an einem, die man sich davor nicht zugetraut hätte.
Hat die Tätigkeit Ihren Blickwinkel auf die Gemeinde verändert?
Am Anfang lernte ich viel Neues über die Gemeinde und ich musste mich erst einmal im Gemeinderat zurechtfinden. Ich musste mir plötzlich über vieles eine Meinung bilden und darüber abstimmen. Dann kam die Phase, in der ich immer klarer versucht habe, meinen Standpunkt zu formulieren, hinter dem ich stehe. Das Schwierige dabei ist, nicht hinterher zu hinken, sondern voraus zu schauen und andere mitnehmen zu können. Aber auch auf andere zu hören und für das Gemeinwohl zu denken. Und da fängt meine Leidenschaft erst richtig an.
Was bedeutet in diesem Zusammenhang Nachhaltigkeit für Sie?
Oft treffen wir im Gemeinderat Entscheidungen in vielen Belangen, die richtungsweisend sind für die Zukunft, zum Beispiel bei den städtebaulichen Leitlinien. Dabei haben wir auch eine Vorbildfunktion. Bei den kommunalen Gebäuden machen wir uns schon auf den Weg und investieren in Sanierungen, nutzen klimafreundliche Wärme und Strom. Mit meiner Stimme im Gemeinderat kann ich darauf hinwirken, dass wir uns gut auf den Weg machen in Richtung Nachhaltigkeit. Ich mache es mir auch zur Aufgabe, verschiedene Gruppen zusammenzubringen. Beispielsweise war geplant, das Küssaberger Rhine Cleanup zusammen mit den Jugendlichen unserer Partnerstadt La Talaudière durchzuführen. Leider hat uns Corona auch hier erst mal einen Strich durch die Rechnung gemacht. Aber wir werden das sicher nachholen können.
Wo ist Ihrer Meinung nach noch Luft nach oben?
Nachhaltigkeit ist etwas, woran man immer schafft. Schließlich gibt es immer wieder technische Entwicklungen, die uns helfen, neue Wege zu gehen und ausprobiert werden sollten. Hier ist das Carsharing-Projekt in Küssaberg ein sehr gutes Beispiel. Allein mit der Einführung des Konzepts, inklusive E-Mobilität, sind wir noch lange nicht am Ende. Aktuell noch in der Entwicklung befindliche nachhaltigere Techniken werden kommen, worauf ich schon sehr gespannt bin. Neue Erkenntnisse, Ideen und daraus resultierende Verhaltensänderungen sind wichtig.
Ursprünglich war geplant, dass das Carsharing-Projekt bereits im vergangenen Sommer starten sollte. Corona hat Ihrer Initiative da etwas den Wind aus den Segeln genommen. Wann kann mit einer Umsetzung gerechnet werden?
Zunächst mal hat die Pandemie mit ihrem ersten Lockdown nicht nur zu einer Verzögerung des Carsharing-Projekts beigetragen. Sie war auch Auslöser, dass wir heute auch den Fuß- und Radverkehr im Fokus haben. An der frischen Luft zu radeln war das, was man gut gemeinsam in Teams machen konnte. Deshalb haben wir uns letztes Jahr spontan am deutschlandweiten Stadtradeln beteiligt. Und das hat allen so unglaublich gutgetan, nach all den Veranstaltungen, die abgesagt werden mussten. Nun, mit frischem Wind, hoffen wir spätestens im Frühling auf ein positives Votum vom Gemeinderat für Carsharing und E-Lastenfahrräder. Dann könnte es noch dieses Jahr losgehen. Aktuell sind wir dabei, Fördergelder zu finden, um das Projekt nachhaltig auf gute Füße zu stellen. Und dann braucht es Küssaberger, die bereit sind, sich auf ein neues Mobilitätskonzept einzulassen. Belohnt wird dies übrigens durch einen verbesserten ökologischen Fußabdruck, eine finanzielle Entlastung und eine Steigerung der Lebensqualität (lacht).
Ist das Projekt zum Thema Carsharing dann abgeschlossen?
Auf gar keinen Fall! Da gibt es noch viele weitere Ideen. Aber erst mal wollen wir uns gut darum kümmern, dass das Carsharing-Projekt nach der Einführung optimal anläuft. Auch Stadtradeln werden wir die nächsten Jahre beibehalten. Schlussendlich wollen wir auf diesem Weg viele mitnehmen. Mal schauen, welche Gemeinden dieses Jahr hier in direkter Nachbarschaft beim Stadtradeln mitmachen. Und bei dem Wörtchen „Wir“ möchte ich mich bei allen bedanken, die in irgendeiner Form mithelfen.
Gibt es weitere Ideen für eine nachhaltige Lebensweise, die Sie gerne angehen würden?
Da ich prinzipiell nicht an immerwährenden Wachstum glaube und auch nicht daran, dass so etwas glücklich macht, sollte unser Fokus auf die Befriedigung der Grundbedürfnisse gelegt werden. Deshalb darf es nicht sein, dass wir heute für Wohnen und Mobilität so viel Geld ausgeben müssen, um dann festzustellen, dass wir keine Zeit mehr haben und auch noch unsere Umwelt zerstören. Bei der städtebaulichen Entwicklung finde ich zum Beispiel, sind wir im Gemeinderat und in der Gesellschaft herausgefordert, einen mutigen Schritt nach vorn zu tun. Es braucht eine klimafreundliche Quartiersplanung mit einem Mobilitätskonzept, bei dem der Fuß- und Radverkehr Vorrang hat. Ich würde mich sehr über ein Wohnprojekt mit Wohngemeinnützigkeit im nächsten Baugebiet freuen, die sich Fahrzeuge wie ein Auto und ein Lastenfahrrad teilen. Wenn sich eine Wohngenossenschaft gründen würde, um bezahlbaren Wohnraum zu schaffen, wäre das Superlativ.
Mal abgesehen von Ihrem Alltag, was machen Sie, wenn keine Termine anstehen und nichts organisiert werden muss?
Prinzipiell bin ich ein offener und neugieriger Mensch. Ich bin gerne mit meiner Familie und unserem Hund in der Natur unterwegs. Zuletzt habe ich die 80 Tage der Weltregatta Vendée Globe mehrmals täglich im Internet verfolgt. Der deutsche Segler Boris Herrmann war bis zu seiner Kollision mit einem Fischerboot kurz vor dem Ziel, sogar Favorit auf den ersten Platz. Ich freue mich mit ihm über seinen fünften Platz und das gute Rennen. Seine Yacht ist übrigens mit Sensoren ausgestattet und übermittelt Daten an das Max Planck Institut in Hamburg zur Erforschung der Klimaveränderung. Außerdem hat er ein Projekt auf den Philippinen. 44.000 Mangroven sind schon gepflanzt, das Ziel sind eine Million. Solche Projekte machen mich froh. Und ich lechze schon danach, wieder ins Theater gehen zu können und mich dann über das Stück mit anderen auszutauschen. Oft werden dabei Gegensätze herausgearbeitet, in dessen Spannungsfeld wir alle leben. Ist nicht das ganze Leben ganz großes Theater?