Fast ist Saskia Schneider schnellen Schrittes vorbeigelaufen. Da entdeckt sie die Kamera und bleibt doch stehen. Fotos machen, das ist ihre Leidenschaft. Jeden Samstag fährt die 37-Jährige mit ihrer Mutter los, Mittagessen, Kaffeetrinken, Kühe gucken – aber vor allem: Fotos machen, Fotos entwickeln, Fotos gucken. „Über Fotos kommunizieren wir“, erklärt die Mutter, Helga Schneider. Ihre Tochter Saskia, „meine Saskia“, ist geistig behindert und lebt seit 2004 im St. Josefshaus in Rheinfelden-Herten.
Wohngruppen mit Hochrisiko-Patienten
Wie für alle Pflegeheime ist auch für das St. Josefshaus die Corona-Pandemie eine Herausforderung. In einigen Wohngruppen leben Hochrisiko-Patienten, deshalb müsse man sehr vorsichtig sein, sagt Sprecher Andreas Gräff. Für ihre Tochter Saskia schätzt Schneider die Gefahr nicht allzu hoch ein, sie sei gesund. Zwei Mal die Woche kommt sie ihre Tochter besuchen, die Tage sind im Kalender in Saskias Zimmer markiert.
Leidenschaft fürs Fotografieren
Dieser feste Rhythmus gebe der Tochter Sicherheit. So ist sie an diesem Tag auch sichtlich irritiert, dass es nach dem Ende der Fördergruppe nicht direkt in die Wohngruppe geht. Aber Fotos machen, das mag sie ja, also kommt sie doch mit in den Garten des Markhofs. Blickt dann immer nur kurz und leicht verschämt in die Kameralinse – lässt sich aber hinterher gerne die Bilder zeigen, freut sich.
Auf dem Weg durch den Garten grüßen Bewohner und Mitarbeitende freundlich. Helga Schneider ist nicht nur Angehörige, sie hat auch fast 20 Jahre im St. Josefshaus gearbeitet. Eine Bewohnerin spricht Schneider an: „Ich muss doch eine Maske aufsetzen“, sagt sie. Die ehemalige Gruppenleiterin bestätigt: „Genau!“ – „Ich habe aber gar keine“ – „Doch, schau mal, sie hängt dir um den Hals, hier!“ – „Oh ja, stimmt!“ Die Bewohnerin setzt ungelenk die Maske auf, Schneider hilft etwas.
Bewohner zeigen viel Verständis
Die Bewohner verstehen das schon, das mit Corona, sagt Schneider. „Die spüren, dass es eine andere Situation ist. Wir machen immer den Fehler, dass wir Menschen mit Behinderung unterschätzen.“ Auch sie habe anfangs gedacht, ihre Tochter mit Maske, das wird schwierig. „Ich wollte in den Laden, Fotos entwickeln, und sie wollte mit.“ Also habe sie ihr erklärt, dass sie einen Mundschutz tragen muss – „und das ging gut!“
Bindung zu Mitbewohnern wurde enger
Tatsächlich finde sie, ihre Tochter habe in den vergangenen Monaten einen „ganz schönen Schritt vorwärts gemacht“: Sie habe deutlich mehr Geduld. „Sie kann vieles akzeptieren.“ Auch wie sie mit anderen umgehe, wie sie ihre Gefühle zeige, das sei sanfter geworden. Saskia spricht nur einzelne Wörter, verstehe aber alles, sagt die Mutter. In der Krise sei zudem die Bindung zu den Mitbewohnern enger geworden – und zu den Mitarbeitern. Vor diesen hat Schneider große Hochachtung, das betont sie immer wieder. Wie diese die „enorm schwierige Zeit“ meisterten, das sei großartig.
Die sechs Bewohner aus Saskias Gruppe etwa hätten ein Beet bepflanzt – Saskia habe sich mitten hinein gesetzt und wollte fotografiert werden. Schneider lacht. Überhaupt sagt sie viel Positives. Sie zuckt mit den Schultern. „Als Mutter mit einem behinderten Kind hat man zwei Möglichkeiten: Entweder man akzeptiert‘s – oder nicht. Ich suche das Positive, vom Jammern wird‘s ja nicht besser.“
Dass sie ihre Saskia im Frühjahr 16 Wochen lang gar nicht gesehen hat, das sei schon schwer gewesen. „Natürlich habe ich sie vermisst – aber ich habe ja meinen Kopf zum Einschalten“, sagt die 69-Jährige bestimmt. Dann die von vielen Heimen ermöglichten Treffen durch Plexiglas hindurch – das bringe ihrer Tochter nichts, sie brauche die körperliche Nähe. Daher habe sie nach dem totalen Besuchsverbot weitere zwei Wochen gewartet, bis sie ihre Tochter wieder besuchte – bis das ohne Scheibe, mit Maske auf dem Hof, möglich war.
Ein Ausflug zum Fotografieren
Doch beim ersten Wiedersehen sei Saskia sehr distanziert gewesen. Erst als Schneider beim zweiten Mal den bekannten Autoschlüssel in der Hand hatte und die Tochter wusste, jetzt kommt der Ausflug zum Fotografieren, sei sie wieder näher gekommen. „Das ist auch Selbstschutz“, sagt die Mutter, „sie wollte erst mal gucken, was kommt“. Das sei auch ok: „Das war die Generalprobe für wenn ich nicht mehr bin. Denn dann geht das Leben ja weiter.“
Inzwischen gibt es wieder mehr Angebote, die aber innerhalb der Wohngruppen stattfänden, um die Ansteckungsgefahr zu verringern, erklärt Einrichtungsleiter Stefan Berndt. Das Konzept werde ständig angepasst, die Infektionszahlen im Blick behalten, ergänzt Sprecher Gräff. Dabei sei eine hohe Flexibilität der Mitarbeiter gefragt. Diese seien „hoch verantwortungsvoll“ – denn wenn das Virus in ein Heim kommt, dann von außen. Da müssten vor allem die Mitarbeiter aufpassen, wohin sie in den Urlaub fahren.
Schneider selbst ist froh, dass sie im Corona-Jahr nicht mehr im Pflegeheim arbeitet. „Das sage ich ganz laut!“, sagt sie und lacht wieder. Sie halte die Maßnahmen für richtig, immerhin habe es im Hertener Heim keinen einzigen Fall gegeben. Auch die Regeln, wie sie jetzt gelten, maximal zwei Besucher, in der Wohngruppe nur im eigenen Zimmer, mit Mundschutz und Registrierung, finde sie gut. Wie es im Herbst wird, wenn sie beim Kaffee nicht mehr draußen sitzen können? „Wir müssen gucken. Es ist eine Gefahr, die man nicht sieht – und die wird bleiben.“