Der Sommer 1993 war für Hunderte Familien am Hochrhein alles andere als eine unbeschwerte Zeit. Nach Jahren quälender Spekulationen wurde offiziell, dass im Waldshuter Lonza-Werk mit dem Jahresende die letzte Schicht nahte.
Für die meisten der 400 Mitarbeiter bedeutete dies am Tiefpunkt des Wirtschaftsabschwungs 1993 entweder Jobsuche oder gleich Arbeitslosigkeit. Wo später zwischen Waldshut und Tiengen der Gewerbepark Hochrhein entstand, endeten mit der Chemieproduktion 80 Jahre Industriegeschichte.
Aus zwei Richtungen wehte den betroffenen Lonzanern damals der Wind entgegen. Einerseits trat nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes 1990 neue und billiger produzierende Konkurrenz in den Markt ein.
Andererseits trafen verschärfte Umweltgesetze das Werk umso härter, als die häufig wechselnden Geschäftsführer genauso wie die örtlichen Behörden mindestens seit 1987 um die giftigen Altlasten im Boden wussten. Die Beseitigung dieser Altlasten sollte später eine hohe zweistellige D-Mark-Millionensumme kosten.
Ein erstes öffentliches Warnsignal setzte das Landratsamt als Umweltbehörde im Februar 1991, als Landrat Bernhard Wütz den Medien von hochgiftigem Quecksilber auf rund 900 Quadratmetern Boden berichtete. Ein Gutachter hatte, bis zu zehn Meter tief, 118 Bodenproben untersucht. Auf der Fläche war im Werk Waldshut von 1937 bis 1969 Acetaldehyd produziert worden, ein Vorprodukt für Produkte wie Essigsäure oder Schneckengift.


In hoher Konzentration kann es das menschliche Zentralnervensystem massiv schädigen. Von den gesetzlichen Grenzwerten waren Boden, Luft und Grundwasser laut Behördenangaben allerdings noch weit entfernt. Der damalige Lonza-Geschäftsführer versprach die Beseitigung der Altlast, vorläufig wurde die Fläche mit einer Asphaltdecke versiegelt.
Die Diskussion über Umweltlasten trat bald in den Hintergrund gegenüber Gerüchten über Personalabbau bei der Lonza. Spekulationen über 150 Stellenstreichungen im Juli 1991 dementierte Firmensprecher Werner Blumensaat immerhin mit dem Zusatz, eine Reduzierung um 50 Beschäftigte sei denkbar.
Konzernsprecher verkündet das Aus für 255 Arbeitsplätze
Zwei Jahre später jedoch ging es für die 390 verbliebenen Lonzaner ans Eingemachte. Mitte Mai 1993 kündigte ein Schweizer Konzernsprecher das Aus für 255 Arbeitsplätze zum Jahresende an: 190 Entlassungen und 65 angebotene Wechsel von Waldshut zur Konkurrenz H.C. Stark nach Laufenburg.
Das damit verbundene Ende der Keramik- und Korundproduktion bedeutete laut IG-Chemie-Gewerkschaftschef Heiner Stroh bereits die „Totenglocke“ für den Standort Waldshut. Er prophezeite weitere 25 Abgänge in der organischen Chemie (Essigsäure) und den restlichen 110 Arbeitnehmern eine „ungewisse Zukunft“.
Stroh sollte recht behalten. Schon Ende Juli 1993 titelte der SÜDKURIER: „Lonza-Aus für die letzten 400: SIC schließt“. Unerwartet traf es zuerst die Produktion von Siliciumcarbid in jener Phoenix-Halle, die zuvor als das sichere Standbein des Standortes betrachtet wurde – neun Jahre zuvor für rund 60 Millionen Mark gebaut, mit einem nicht näher bezifferten Millionen-Zuschuss vom Land. Ursache für das Aus war laut einer Konzern-Mitteilung der Preisverfall der Waldshuter Produkte durch steigende Importe aus Billiglohnländern.
Noch im September 1993 stoppte die Phoenix-Produktion, zum 30. November endete die organische Produktion (Essigsäure) und zum Jahresende ging der Korundofen aus. Ein Fähnlein von 20 Mitarbeitern bekam noch einige Monate Verlängerung, durfte 1994 noch das Firmengelände aufräumen und absichern.
Die Ruinen der „Lonza-Werke GmbH Waldshut-Tiengen“ sollten danach ein Jahrzehnt lang das Bild zwischen den beiden Stadtteilen, prägen. Dann sorgte ein Rückbau-Spezialist aus der Kreisstadt dafür, dass die alte Bausubstanz beim Neustart zwischen Rhein und Aarberg an Ort und Stelle wiederverwertet wurde.

Von 2001 bis 2017 gestaltete dann die Gewerbepark Hochrhein GmbH die Industriebrache zu 23 Hektar Gewerbefläche um, von der heute fast alles verkauft und besiedelt ist. Die Gesellschaft, eine Gründung der Lonza, wurde vor wenigen Wochen gelöscht und mit der Lonza-Group verschmolzen.
Eine wichtige Voraussetzung für den Gewerbepark war der Abtransport von vielen Tausend Tonnen belastetem Erdreich. Hunderte von Güterzügen rollten vom eigenen Industriegleis in weit entfernte Sonderdeponien.
Ob die Lonza-Gruppe bei Umweltsanierung und Vermarktung der Grundstücke unter dem Strich ärmer oder reicher wurde, blieb ihr Betriebsgeheimnis. Erinnerlich ist die Aussage eines Konzern-Abwicklers, er sei „nicht hier, um Geld zu wechseln“.
Dieser Artikel wurde erstmals am 16. August 2022 veröffentlicht.