Herr Gruner, der Zusammenschluss der beiden Städte und der Dörfer wurde damals als Zwangsehe gebrandmarkt. Wie würden Sie das aus heutiger Sicht beurteilen?
Der Zusammenschluss mag seinerzeit als „Zwangsehe“ empfunden worden sein, doch aus der Perspektive von heute war er eine mutige und richtige Entscheidung. Er hat nicht nur die Voraussetzungen für eine stärkere wirtschaftliche Position geschaffen, sondern auch das Fundament für eine gemeinsame Zukunft gelegt. Zwei traditionsreiche Städte, die einst durch Grenzen getrennt waren, wurden zu einem Ganzen vereint. Eine Verbindung, die sich bis heute als sehr belastbar erwiesen hat, weil sie Vielfalt, Charakter und historische Wurzeln unter einem Dach vereint.
Status „Große Kreisstadt“ bringt mehr Eigenständigkeit
Woran werden die Vorteile des Zusammenschlusses besonders deutlich?
Die Früchte dieser Verbindung sehen wir täglich: Waldshut-Tiengen ist heute die größte Stadt im Landkreis und nimmt als Mittelzentrum eine zentrale Stellung in der Region ein. Wir verfügen über ein breit gefächertes Angebot an Schulen, Kultur- und Freizeiteinrichtungen, das seinesgleichen sucht. Hinzu kommt unsere politische Eigenständigkeit, die uns der Status der „Großen Kreisstadt“ ermöglicht. Damit können wir viele Entscheidungen im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben eigenverantwortlich treffen. Auch bei übergeordneten Behörden wie dem Regierungspräsidium oder den Ministerien werden wir anders wahrgenommen – und dass es in der Stadt einen Oberbürgermeister und eine erste Beigeordnete gibt, ist sicher von Vorteil, da wir Kompetenzen bündeln und Aufgaben teilen können.
Viele Doppelstrukturen wurden beibehalten. An welchen Stellen ist das heute ein Problem?
Natürlich bringen Doppelstrukturen auch Herausforderungen mit sich, vor allem in finanzieller Hinsicht. Zwei Gymnasien, zwei Realschulen, zwei Freibäder, zwei Rathäuser und damit natürlich auch weit verzweigte Verwaltungsstrukturen erfordern einen hohen organisatorischen Aufwand. Hinzu kommt der Verkehr zwischen den Stadtkernen, der sowohl faktisch auf den Straßen als auch in der öffentlichen Wahrnehmung eine Belastung darstellt. Doch statt vorschnell zu kritisieren, können wir Doppelstrukturen auch gezielt auf ihren Nutzen prüfen – denn nicht selten sind sie ein Gewinn.
Strukturen gewährleisten Vielfalt
Wo erweisen sich die Strukturen denn als Vorteil?
Gerade in der Vielfalt unserer Strukturen liegt meines Erachtens eine große Stärke. Doppelstrukturen ermöglichen Bürgernähe und schaffen Identität, sei es zum Beispiel durch unsere beiden großen Heimatfeste Chilbi und Schwyzertag oder durch die erhaltene historische Infrastruktur in den beiden Innenstädten. Auch bei der Freizeitgestaltung erweisen sich unsere Doppelstrukturen in vielen Bereichen als Vorteil: Es gibt unzählige Vereine und kulturelle Angebote in Waldshut, Tiengen und den Ortsteilen – all das stärkt die Gemeinschaft und macht unsere Stadt lebendig.
Wird man – möglicherweise auch aufgrund von knappen Kassen – noch einmal an dieses Thema herangehen müssen?
Die finanzielle Situation zwingt uns, immer wieder innezuhalten und zu prüfen, wo wir Prozesse effizienter gestalten können. Dabei gilt es jedoch, mit Augenmaß vorzugehen. Doppelstrukturen sind kein Selbstzweck, aber sie sind ein Teil unserer Identität. Statt radikaler Kürzungen müssen wir innovative Ansätze nutzen, ob durch einfache Zusammenarbeit, Digitalisierung oder moderne Vernetzung. So können wir Einsparpotenziale heben, ohne unsere kulturelle und soziale Vielfalt zu gefährden.
Menschen sind der deutlichste Beweis für Zusammenwachsen
Woran erkennt man am deutlichsten, dass Waldshut-Tiengen als Doppelstadt zusammengewachsen ist?
Das deutlichste Zeichen sind wohl die Menschen selbst. Für Zugezogene wie mich, aber auch für die jüngeren Generationen ist Waldshut-Tiengen längst eine Einheit, sie kennen keine Trennung mehr. Sie leben, arbeiten und feiern in der Stadt und ihren Ortsteilen. Das zeigt auch die enge Zusammenarbeit in Vereinen, in der Wirtschaft und bei städtischen Projekten: Wir sind keine Nachbarn mehr, wir sind eine Gemeinschaft.
In welchen Bereichen sollte sich noch mehr bewegen, um für die Zukunft gewappnet zu sein?
Um zukunftsfähig zu bleiben, müssen wir vor allem unseren konstruktiven, respektvollen und wertschätzenden Umgang miteinander erhalten – das ist für mich das Wichtigste und das gilt für unsere Stadt genauso wie für unser Land. Gehen wir einfach mal davon aus, dass jeder grundsätzlich versucht, sein Bestes zu geben – das ändert im Miteinander schon extrem viel. Und dann ist da natürlich die Hardware: Wir müssen den Verkehr in den Griff bekommen oder lernen, mit ihm umzugehen und gleichzeitig nachhaltige Mobilitätskonzepte entwickeln. Wohnen bleibt ein zentrales Thema, ebenso wie die Modernisierung und der Ausbau unserer Bildungs- und Freizeitangebote. Aber auch die Digitalisierung, sowohl in der Verwaltung als auch in der Infrastruktur, ist ein Schlüssel zur Wettbewerbsfähigkeit. Hier müssen wir mutig vorangehen, um als Doppelstadt weiterhin Vorreiter in unserer Region zu sein.
Worin liegt für den OB einer Doppelstadt die größte Herausforderung?
Die größte Herausforderung – und zugleich die schönste Aufgabe – ist es, die Vielfalt unserer Stadtteile zu einem harmonischen Ganzen zu formen. Jeder Stadtteil, jeder Ortsteil hat seinen eigenen Charakter, seine Traditionen und seine Menschen. Es geht darum, diese Vielfalt zu bewahren und gleichzeitig ein starkes „Wir-Gefühl“ zu fördern. Als Oberbürgermeister sehe ich mich hier als Brückenbauer, der Verbindungen schafft und dafür sorgt, dass Waldshut-Tiengen nicht nur verwaltungstechnisch, sondern vor allem im Herzen der Menschen eine Einheit ist.