Der Schlosshof in Tiengen ist seit einigen Wochen eine Baustelle. Bauarbeiter haben das Pflaster entfernt und Gräben ausgehoben, um Leitungen für eine neue Heizungsanlage in dem historischen Gebäudekomplex zu legen. Dem Landesamt für Denkmalpflege in Freiburg zufolge stieß einer der Arbeiter dabei im Bereich der Kaplanei auf menschliche Knochen.
„Er hat die Arbeiten sofort unterbrochen und den Bauleiter informiert, der wiederum das Landesamt für Denkmalpflege einschaltete“, schildert Bertram Jenisch, Gebietsreferent Archäologische Denkmalpflege, das Vorgehen, das im Denkmalschutzgesetz geregelt sei.

Die Bauarbeiten wurden unmittelbar eingestellt. „Dann rückte quasi bei uns die Feuerwehr aus“, fährt Jenisch fort. Das bedeute, dass die Freiburger Behörde einen Mitarbeiter für Grabungstechnik nach Tiengen schickte, der die Knochen begutachtete und den Fund dokumentierte. Inzwischen befinden sich die Knochen dem Archäologen zufolge im Landesamt für Denkmalpflege, wo sie zunächst getrocknet und grob gereinigt werden. Anschließend werde der Fund einem Anthropologen in Konstanz übergeben, der das Geschlecht der verstorbenen Person und das Alter zum Todeszeitpunkt ermittelt sowie auf eventuelle Verletzungen und Krankheiten untersucht.
Dass neben den Gebeinen keine Grabbeigaben zum Vorschein kamen, lässt laut Bertram Jenisch darauf schließen, dass die Person nicht aus einer frühgeschichtlichen Epoche wie der Steinzeit oder der Römerzeit stammt. „Damals war es üblich, den Verstorbenen Gegenstände wie Schmuck oder Gefäße mit Speisen und Getränken für die Reise ins Jenseits ins Grab zu legen“, erklärt der Wissenschaftler. Mit Beginn der Christianisierung habe der Glaube an die Wiedergeburt diesen Brauch überflüssig gemacht.
Auch die Baugeschichte des Schlosses Tiengen lasse Rückschlüsse auf den ungefähren Zeitpunkt der Bestattung zu. Die Kaplanei gehört zum Neubau der Anlage und wurde ab 1571 errichtet. Damals sei es nicht ungewöhnlich gewesen, Personen im Bereich einer Kapelle, also der Kaplanei, zu bestatten. „Ab dem 18. Jahrhundert hat man aus hygienischen Gründen Friedhöfe außerhalb der Stadtmauern angelegt“, weiß Bertram Jenisch. Aufgrund der fehlenden Grabbeigaben, des Fundortes sowie der Baugeschichte des Schlosses könne die Anlage des Grabes zeitlich eingegrenzt werden. „Meine grobe Schätzung lautet Mitte 16. bis 18. Jahrhundert“, so der Experte.
Die Bauarbeiten im Schlosshof können aus seiner Sicht fortgesetzt werden. Auszuschließen sei nicht, dass die Arbeiter dabei auf weitere Knochen stoßen, wenn auch nicht sehr wahrscheinlich. „Wir werden dann wieder hinzugezogen“, erklärt Jenisch. Doch wem gehört der Fund eigentlich? „Durch die Dokumentation und die Grabungen ist das Skelett in Landeseigentum übergegangen“, betont der Archäologe. Die Knochen gehören somit weder dem Schlossbesitzer noch den Tiengenern, „obwohl die Person vermutlich Tiengener war“, fügt Jenisch hinzu.
Auf die Frage, ob es denkbar sei, das Skelett nach Abschluss der Untersuchungen im Klettgau-Museum des Tiengener Schlosses auszustellen, sagt Bertram Jenisch: „Das halte ich für keine gute Idee.“ Aus Pietätsgründen verbiete sich dies. „Es sind die Überreste eines Menschen. Man wird keine Leichenteile ausstellen“, fügt er erklärend hinzu. Zudem handele es sich um kein attraktives Exponat. „Natürlich ist der Mensch in Bozen ein Publikumsrenner“, kommt Jenisch auf die Gletschermumie Ötzi zu sprechen, die im Südtiroler Archäologiemuseum jedes Jahr Scharen von Besuchern anlockt. Doch auch diese Ausstellung sieht der Wissenschaftler kritisch. „Meine persönliche Meinung ist, dass menschliche Leichenteile nicht ausgestellt gehören. Und damit stehe ich im Kreise der Archäologen nicht allein da.“
Die übliche Vorgehensweise sei entweder, das Skelett in den Forschungsräumen der Anthropologie aufzubewahren oder es in der Nähe des Fundortes beizusetzen. „Darauf wird es in Tiengen hinauslaufen“, vermutet Jenisch. Die Identität der Person lasse sich höchstwahrscheinlich nicht ermitteln. Dafür bräuchte es Schriftquellen wie Kirchenbücher, die belegen, dass in dem in Frage kommenden Zeitraum ein Mensch im Bereich der Kaplanei bestattet wurde. „Die meisten Skelette, die wir bergen, sind namenlos. Sie bekommen von uns eine ganz langweilige Grabungsnummer“, sagt er schmunzelnd. Landesweit führt das Landesamt für Denkmalpflege jährlich zwischen 600 und 700 Ausgrabungen durch. „Bei einem Viertel findet man Skelette“, so der Archäologe abschließend.