Ann-Kathrin Albicker liest ihren Kindern vor. Sie schmiegen sich an ihre Mutter und hören einer Piratengeschichte zu. Ein rot-weiß gestreiftes Plüschwesen lauscht daneben als stummer Zuhörer. Sitzsäcke, Kissen und Möbel im Kinderformat laden zum Sitzen ein. Sie sind umstellt von Regalen voller Bücher. Denn die Albickers verbringen ihre Zeit in der Bibliothek, die eigentlich zu diesem Zeitpunkt gar nicht geöffnet hat. Möglich wird das durch das Flexibib-System.

25.000 Medien im Kornhaus
Nach einem Umbau wurde die erweiterte Bibliothek im denkmalgeschützten Kornhaus in Waldshut im November 2022 eröffnet. Bei den Feierlichkeiten dazu betonte Regierungsvizepräsident Klemens Ficht damals, dass die Einrichtung die erste Flexibib in Baden-Württemberg werde. Mit dem Ausbau wurde die Bücherei größer. Genauer gesagt wuchs sie von 250 auf 460 Quadratmeter heran. Sie breitete sich von einem Stockwerk auf zwei aus.

Etwa 25.000 Medien sind hier untergebracht. „Vorher hatten wir zu wenig Platz, jetzt haben wir ein Problem, die Regale zu füllen“, sagt Bibliotheksleiterin Yvonne Radzuweit. Dafür sei es nun möglich, Medien auch frontal zu präsentieren, sodass Besucher nicht nur Buchrücken absuchen.

Räume sind videoüberwacht
Im Zuge des Ausbaus wurden auch die erweiterten Öffnungszeiten eingeführt. Nun können die Besucher selbstständig Bücher, Tonies, Spiele bis hin zu Energiekostenmessgeräten ausleihen. Damit die Bibliothek flexibel betreten und genutzt werden kann, wurde sie entsprechend ausgestattet. „Die Räume sind rund um die Uhr videoüberwacht – wie jede Flexibib“, sagt Radzuweit.

Da die Ausweise zum Eintritt gescannt werden, ist bekannt, wer sich in den Räumen aufhält. Jeder Nutzer hat die entsprechende Benutzerordnung unterschrieben, weshalb er haftbar ist, sollte etwas passieren oder er Fremde mitnehmen, erklärt die Bibliotheksleiterin. Auf diesem Wege sind die Büchereiräume im Kornhaus täglich von 7 Uhr bis 21 Uhr zugänglich. Bisher war die Bibliothek nur an drei Tagen in der Woche für einige Stunden geöffnet.
Familien profitieren
„Die Öffnungszeiten vormittags haben uns nichts gebracht“, sagt Ann-Kathrin Albicker, dann sei sie arbeiten und die Kinder im Kindergarten. Nun kann sie ihre Aufenthalte selbst planen. Sie steht exemplarisch für viele Familien und Kinder, denen die flexiblen Öffnungszeiten zugute kommen, kommentiert Bibliotheksleiterin Radzuweit.
Ein Stück Lebensqualität
Die Einführung der flexiblen Öffnungszeiten hatte sich unter anderem wegen des Brandschutzes verzögert. Doch das Warten hat sich gelohnt: „Ich finde es super, dass es das gibt“, sagt Sara Faizee. Es liegt Euphorie in ihrer Antwort. Sie wartete schon darauf, endlich unabhängig von den bisher nur drei Tagen in der Woche die Bücherei nutzen zu können.
Nun schätzt sie die schöne Atmosphäre vor Ort, wie sie sagt. Regelmäßig kommt sie in die Bibliothek und verbringt teilweise bis zu acht Stunden dort, schildert sie. Vor ihr liegt ein prall gefüllter Ordner, dessen Inhalt sie in ihren Kopf arbeitet. Sie bereitet sich auf ihr zweites Staatsexamen als Juristin vor. Gerade macht sie Pause. Aus einer Glasbox isst sie Reis.

Denn: zumindest im Café-Bereich ist essen erlaubt, sagt Radzuweit. Die berüchtigten Chips-Hände an den Buchumschlägen fürchtet sie zwar, dazu gekommen sei es aber noch nicht.
Für Faizee ist mit den flexiblen Öffnungszeiten ein Stück Lebensqualität nach Waldshut gekommen. Auch für die Bücherei macht sich das Angebot positiv bemerkbar: „Seit etwa einem Jahr hat sich ein Drittel der Nutzer insgesamt angemeldet“, sagt ihre Leiterin. Sie nutzen die Bibliothek nun nach Feierabend, auf dem Heimweg oder wie es die Kinder gerade zulassen. Dann finden sie auch neu geschaffene Räume wie die Lesekammer und den Stillarbeitsraum.
In Ruhe lernen
Den nutzen an diesem Tag Jenny Ostertag und Dilara Yetim. Sie haben ihre Lernunterlagen auf dem großen Tisch in der Mitte des Raumes ausgebreitet und arbeiten an ihren Laptops. Die beiden Studentinnen haben schon gemeinsam ihr Abitur absolviert, erzählt Ostertag. Nun lernen sie gemeinsam für ihr Studium. Ostertag studiert Ernährungswissenschaften und Yetim Psychologie, jeweils an einer Fernuniversität.

Auch sie schätzen an der vergrößerten Bibliothek die erweiterten Öffnungszeiten: „Wir können kommen und gehen, wann wir wollen“, kommentiert Ostertag.
Idee aus dem Norden
„Die Idee der Flexibib schwappte aus Schweden und Dänemark herüber“, schildert Radzuweit. In Deutschland wurde die Idee zuerst in den Bücherhallen in Hamburg umgesetzt. „Hamburg liegt etwas näher daran“, scherzt sie. In der norddeutschen Metropole nahm das Bibliotheksprojekt seinen Anfang. Und nun weht in Waldshut der frische Wind aus dem Norden.