Ursula Freudig

Frau Rövekamp-Zurhove, was hat Sie vor zehn Jahren bewogen, nach Waldshut ans Hochrhein-Gymnasium zu kommen und warum verlassen Sie es jetzt?

2010 kamen wir mit unserer Familie an den Hochrhein, weil mein Mann, Ingenieur im Großanlagengenbau, in Zürich eine neue berufliche Herausforderung angenommen hatte. Damals haben wir uns gezielt Waldshut als Wohnort ausgesucht, weil ich im deutschen Schulsystem bleiben wollte, das ich gerade in Baden-Württemberg sehr überzeugend finde. Wir gehen zurück ins Münsterland, weil mein Mann dort eine neue berufliche Herausforderung angenommen hat und weil mir das Maria-Sibylla-Merian-Gymnasium in Telgte eine interessante Aufgabe bietet. Diese Schule ist jung und sehr gut ausgestattet, sie wächst und macht auf mich einen ausgezeichneten Eindruck.

Fällt Ihnen der Abschied vom HGW und von Waldshut-Tiengen gar nicht schwer?

Doch, sehr sogar. In den insgesamt zehn Jahren am HGW ist eine große Verbundenheit gewachsen, die in den vier Jahren meiner Leitung noch stärker geworden ist. Es waren für mich glückliche Jahre, in denen vieles möglich geworden ist. Die Stadt als Schulträger hat uns sehr unterstützt. Auch privat fällt der Abschied von vielen Freunden schwer. Wir waren in der katholischen Gemeinde Tiengen zu Hause und wir sind unserem Familienkreis seit zehn Jahren verbunden. Wir haben viel mit-einander erlebt, für mich war der Kreis auch ein wenig Großfamilie. Die schöne Landschaft und Natur, die ideal zum Wandern sind, werden wir sehr vermissen. Ebenso Theaterfahrten nach Zürich oder Basel, aber ich freue mich auf die neue Aufgabe in Telgte und auf das Zusammenleben als Familie und auf die Nähe zu meinen betagten Eltern.

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Sind die Aufgaben und Herausforderungen an jeder Schule ähnlich oder hat jede Schule Besonderheiten, auf die man sich als Leiterin einstellen muss?

Das Wichtigste ist immer das gemeinsame Gestalten von Schule mit Schülern, Lehrern und Eltern. Hierfür muss und darf Leitung Möglichkeiten schaffen. Die Leitung einer Schule hat immer mit sehr vielen verschiedenen Menschen zu tun und eine Schulleiterin wird auch mit vielen Nöten und Sorgen konfrontiert, für die man ein offenes Herz haben sollte. Leitung bedeutet für mich: Sorge für Menschen übernehmen und alles für guten Unterricht tun. Das ist an jeder Schule so. Dann gibt es spezifische Herausforderungen. In Waldshut war und ist die Lehrerversorgung nicht ganz einfach. Wir haben diese Herausforderung gut gemeistert, mussten aber auch Zeit und Mühe investieren. Aktuell haben wir 84 Lehrer für rund 900 Schüler, das ist eine sehr gute Versorgung.

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Was macht Ihrer Erfahrung nach eine Schule interessant für junge Lehrer?

Wenn sie Schule mitgestalten können, eine freundliche Atmosphäre vorfinden und eine gut ausgestattete Schule.

War Corona die bislang größte Herausforderung in Ihrer Zeit als Schulleiterin und wissen Sie schon, ob Corona Auswirkungen auf den diesjährigen Abiturschnitt am HGW hat?

Ja, beruflich war Corona sicher eine große Herausforderung, aber dank engagierter Lehrer, durch das Mitdenken des sechsköpfigen Leitungsteams und mit Hilfe unserer zunehmend guten digitalen Ausstattung sind wir bislang relativ gut durch die Krise gekommen. Diese Woche finden die mündlichen Abiturprüfungen statt, aber ich vermute, dass dieses Jahr der Abiturschnitt leicht besser sein wird als im Vorjahr. Corona und der damit verbundene Online-Unterricht haben nach meinem Eindruck die Unterschiede zwischen den Schülern, die es vorher auch gab, eher verstärkt. Das HGW wird deshalb im neuen Schuljahr besondere Förderprogramme für die Schüler vorsehen, die mit Lücken aus Corona gekommen sind. Viele Kinder und Jugendliche haben zu Hause aber auch sehr gut arbeiten können und sagen uns, sie seien viel selbstständiger geworden.

Sie sagten anfangs, Sie finden Schule in Baden-Württemberg überzeugend, haben Sie wirklich keine Änderungswünsche?

Doch, natürlich. So würde ich es begrüßen, wenn Baden-Württemberg wie schon viele andere Bundesländer wenigstens wahlweise zum G9 zurückkehren und den Schülerinnen und Schülern Wahlmöglichkeiten eröffnen würde. G8 ist meiner Ansicht kein guter Weg für alle. Lernen braucht Zeit, auch Zeit für Bewegung, Musik und Spiel. Ich wünsche mir verstärkte Anstrengungen bei der digitalen Ausstattung der Schulen. Corona hat gezeigt, wie wichtig das ist. Weiterhin wären zum Beispiel einheitlichere Kriterien bei der Bewertung des Deutsch-Abiturs wünschenswert. Die gibt es in Baden-Württemberg nicht in ausreichender Klarheit. Es wird immer wieder darüber gestritten, wie beispielsweise bei einem Aufsatz Rechtschreibfehler gewertet werden. In diesem Zusammenhang hat Baden-Württemberg aber einen richtigen Schritt gemacht und ab Klasse 1 den Rechtschreibrahmen verbindlich eingeführt. Schreiben nach Gehör war keine gute Idee. Vor allem sollte das Land alles dafür tun, dass der wunderbare Beruf des Lehrers den Respekt und die Wertschätzung bekommt, die er verdient. Es sollte alles dafür getan werden, dass die besten jungen Leute diesen verantwortungsvollen Beruf ergreifen.

Sie waren in der mehr als 200-jährigen Geschichte des HGW die erste Schulleiterin – haben Sie das in irgendeiner Beziehung gemerkt?

Nein, ich musste auch schmunzeln und fand es unglaublich, dass der SÜDKURIER bei meiner Amtseinführung als Überschrift titelte: „Nach über 200 Jahren erstmals Frau an der Spitze.“ Anderswo hätte man es nicht einmal erwähnt, wenn Schulleiter- und Stellvertreterposten beide mit einer Frau besetzt worden wären. Sehr günstig ist es nach meiner Erfahrung, wenn Frauen und Männer zusammenarbeiten können. Am HGW bilden drei Frauen und drei Männer das Leitungsteam; das war eine ideale Situation.

Können Sie spontan ein paar besonders schöne Dinge nennen, die Sie als Schulleiterin am Hochrhein-Gymnasium erlebt haben und die Sie so schnell nicht vergessen werden?

Unvergessen bleibt sicher der überwältigende Erfolg von Alex und Felix mit ihrem Hoverboard bei „Jugend forscht“. Berührend bleibt für mich, zu welchen beeindruckenden Leistungen viele Schüler fähig sind, wenn zum Beispiel wie in diesem und im letzten Jahr eine junge Frau den Ferry-Porsche-Preis für hervorragende Leistungen in Mathematik und Physik erhält. Immer bewegend war und ist es, wenn für Schüler, bei denen etwas, was anfangs nicht leicht war, gut geworden ist. Zum Beispiel Anastasia. Sie kam, ohne ein Wort deutsch sprechen zu können, zu uns und besuchte zunächst unsere Vorbereitungsklasse. In diesen Tagen hat Anastasia ihr Deutsch-Abitur mit zwölf Punkten, also mit der Note „voll gut“ abgelegt. Das freut mich zutiefst und zeigt mir auch, wie sinnvoll Vorbereitungsklassen sind, auch wenn es manchmal Skepsis gibt, ob Sprachlernklassen ans Gymnasium gehören.

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Wenn Sie auf Ihre zehn Jahre am HGW zurückblicken – haben sich die Schüler verändert?

Die Streuung ist breiter geworden, auch durch die neuen Medien. Der Medienkonsum fördert nicht unbedingt die Konzentration. Es fällt manchen Kindern und Jugendlichen schwer, sich nicht von ihnen ablenken zu lassen. Aber es gibt auch sehr viele verantwortungsvolle Schüler. So erfüllt es mich sehr, wie unser Sozialtraining hilft, Empathie und Mut zu stärken und Schule als „Schule mit Courage“ zu leben.

Was wünschen Sie sich für das Hochrhein-Gymnasium Waldshut und Ihren neuen Arbeitsplatz in Telgte?

Ich wünsche mir, dass das Schulleben am HGW so lebendig und vielfältig bleibt wie bisher und dass alle Schüler möglichst erfolgreich lernen können. Für mich selbst hoffe ich, dass ich an meinem neuen Gymnasium in Telgte so glücklich werde, wie ich es in Waldshut am Hochrhein-Gymnasium gewesen bin.