Wer Gerold Rotzler als „Brenneter Urgestein“ bezeichnet, übertreibt nicht. Der 1927 geborene Senior ist einer der ältesten Öflinger. Er verfügt nicht nur über ein messerscharfes Gedächtnis, sondern auch über einen Schatz an alten Fotos. Diesen hat er von seinem Vater Fridolin (1894-1992) geerbt, einst Mitinhaber der Baufirma „Jegge & Rotzler“ und langjähriger Gemeinderat.
Eine der Aufnahmen ist ein bedeutendes Dokument unserer Industriegeschichte. Es zeigt den Unfall eines Stoffwagens der MBB im Jahr 1910. Ort des Geschehens ist die ehemalige Hauptstraße in Öflingen. Nach dem Zusammenschluss mit Wehr 1972 wurde aus ihr die Wehratalstraße. Schräg gegenüber vom Haus der „Fazeles“ – so der Übername der Familie des MBB-Obermeisters Martin Keser – war das schwere Gefährt von der Straße abgekommen. Weil es sich um ein spektakuläres Geschehen handelte, bildete sich rasch eine Menschentraube. Sogar ein Fotograf war zur Stelle und hat die Szene festgehalten. Zu sehen sind unter anderem auch Gerold Rotzlers Vater Fridolin sowie sein Großvater Adolph.

Dieses Foto ist deshalb so wichtig, weil es uns die Bedeutung der Transportmittel für die Industrialisierung vor Augen führt. Durch den Bau der Eisenbahnlinien im Hochrhein-, Wiesen- und Wehratal kamen gigantische Mengen an Rohstoffen und Waren in den Bahnhöfen an. Sie mussten von dort zu den Fabriken geschafft werden. Bis zum Beginn der 1920er Jahre erledigten Fuhrleute mit ihren schweren Gespannen diesen Job. Dann traten Laster an ihre Stelle.
Um die Mengen zu verdeutlichen: Im Jahr 1900 verbrauchte die MBB 1,5 Millionen Kilogramm Baumwolle. Daraus wurden 6,8 Millionen Meter buntgewebte Ware produziert. Dafür wurden in der Wehrer und Öflinger Fabrik 2,1 Millionen Kilogramm Kohle verbrannt. Die Ladung eines Eisenbahnwaggons wurde von der MBB mit circa 12.000 Kilogramm kalkuliert. Oder ein anderes Beispiel: Als 1906 auf Initiative Friedrich Rupps die Firma „Neflin & Rupp“ eine Färberei baute, musste der tonnenschwere Färbereikessel mit einem Ochsengespann vom Wehrer Bahnhof zu Fabrik geschafft werden. Solche und andere Lasten wurden von den Fuhrleuten des Wehratals bewältigt.

Ein Sonderfall war der Werksverkehr zwischen den Standorten der MBB im Wiesen- und Wehratal. Weil nach Übernahme der Spinnerei Hausen 1894 der Ausstoß der Weberei Wehr stark zunahm, musste auch die Kapazität der Ausrüstung in Brennet erweitert werden. Zudem stiegen aufgrund der Textilmode und der aufkommenden Kaufhäuser auch die Qualitätsansprüche der Kunden. Daher wurde um 1900 die Ausrüstung in Brennet vergrößert und modernisiert. Den Transport der gewaltigen Stoffmengen von Wehr hinunter nach Brennet besorgten Fuhrleute.
Dabei kam es immer wieder zu schlimmen Unfällen. Eine besonders gefährliche Stelle lag, wie bereits erwähnt, schräg gegenüber vom Haus der „Fazeles“, heute Wehratalstraß 49. Hier kam im Winter 1910 besagter Stoffwagen der MBB auf spiegelglatter Straße vom Weg ab und stürzte um. Die Stoffballen kippten in den Dreck. Wie es dem Fuhrmann und seinen Pferden erging, ist nicht überliefert.

Leider wissen wir nur wenig über die Fuhrleute im Wehratal. Als historische Figur tritt uns aber der Fuhrhalter Otto Fricker (1876-1949) entgegen. Er war weit über Wehr hinaus bekannt und betrieb auch eine Zeit lang den Personen- und Warenverkehr durch die Wehraschlucht hinauf nach Todtmoos. Seine 1938 geborene Enkelin „Klärle“ Schmid weiß jedoch aus der Familienüberlieferung zu berichten, dass ihr Großvater Otto viele Aufträge von der MBB erhielt. Es handelte sich um Garn- und Stofftransporte zwischen Hausen, Wehr und Brennet. Da sein Hof in der Todtmooser Straße nahe bei der Weberei lag, war er rasch zur Stelle, wenn die MBB Aufträge vergab. Die Firma hatte auch eigene Fuhrwerke. Die Stallungen befanden sich hinter der 1960 abgerissenen alten „Hammerwirtschaft“. Trotzdem konnte sich Otto Fricker als selbständiger Fuhrhalter gewiss nicht über fehlende Aufträge beklagen. Die Menge der Rohstoffe und Waren war so gewaltig, dass der firmeneigene Fuhrpark sie nicht zu bewältigen vermochte.
Den Fuhrmann Otto Fricker sen. wird es gefreut haben. Sein Sohn Otto jun., der in die Fußstapfen des Vaters trat, ging allerdings leer aus. Inzwischen besaß die MBB eigene Laster. Otto jun. blieb indes noch genügend Arbeit. Aufträge erhielt er auch von der Gemeinde sowie vom Kraftwerk Rheinfelden, für das er viele Strommasten transportierte.