Es war ein Tag wie jeder andere für Schäfer Wolfgang Lechner, als er Anfang der vergangenen Woche mit seiner Schafherde auf einer Weide im Bereich der Minkenmühle in der Nähe des Eigeltinger Ortsteils Heudorf unterwegs war. Doch während die Schafe weideten und der Schäfer am Wegesrand in seinem Auto saß, um Papierkram zu erledigen, machten erste Fotos und Meldungen einer Wolfssichtung bei Mühlingen unweit des Weideplatzes der Herde die Runde in den sozialen Netzwerken. Lechner bekam davon nichts mit, doch er und seine Schafe sollten noch am selben Tag eine leibhaftige Begegnung mit dem Tier machen.
Immer wieder an diesem Tag hatte es kurz geregnet, erzählt Lechner im Gespräch mit dem SÜDKURIER. Sein Ölmantel schütze ihn zwar vor den Elementen, genauso wie die dichte Wolle seine Schafe schützt, doch trotzdem hatte er sich während einem Schauer kurz in sein Auto zurückgezogen und die Gelegenheit genutzt, auch einige Telefonate zu erledigen, als er beim Blick durch die Scheibe plötzlich ein wolfsartiges Tier auf seine Herde zulaufen sah.
Plötzlich packt der Wolf ein Schaf
„Ich habe ihn gesehen und sofort gewusst, das ist ein Wolf“, so Lechner. „Ganz ruhig und sehr zielstrebig“ sei der Wolf ihm vorgekommen. Als das Tier näher an die Schafe herangekommen war, drang es schnell in die Herde ein. „Der Wolf packte eines der Schafe und zerrte an ihm“, so Lechners Beschreibung des Wolfsangriffes. „Es dauerte nicht einmal eine halbe Minute und schon hatte er ein Schaf“, so Lechner.
Er habe bereits, als er den Wolf kommen gesehen habe, alles beiseitegelegt und sein Auto verlassen. „Ich habe laut geschrien, dann ließ er von ihm ab“, erzählt er weiter. Er habe noch schnell sein Handy genommen, um Aufnahmen des Wolfes zu machen. Das angegriffene Schaf habe Glück im Unglück gehabt. Seine dichte Wolle habe wohl Schlimmeres verhindert, deshalb ging der Wolf leer aus, so Lechner. In knapp zwei Wochen werden seine Schafe allerdings geschoren und sind dann verwundbarer.
Bisher kannte er den Wolf nur aus dem Fernsehen
„Bisher kannte ich den Wolf nur aus Filmen und Dokumentationen“, sagt Lechner. Er denkt mit gemischten Gefühlen an die Begegnung zurück. Den Wolf habe er bisher für ein scheues und eher heimliches Tier der Wälder gehalten. „In der Dokumentation, die ich einmal gesehen habe, wurde ein Wolf mit einem riesigen Teleobjektiv fotografiert und hier spazierte er am hellen Tag nah auch zum Menschen über die Felder, das verwundert mich“.

Tatsächlich sind Wölfe nicht zwangsläufig scheu, wie Johanna Fritz von der Forstlichen Versuchsanstalt Baden-Württemberg in Freiburg (FVA) auf eine frühere Nachfrage des SÜDKURIER erklärte. „Seltene Begegnungen zwischen Mensch und Wolf – auch auf nähere Distanz – können vorkommen, ohne dass dies zugleich als problematisches Verhalten des Wolfes einzuordnen wäre“, schrieb Johanna Fritz. Die Distanz allein sei nicht ausschlaggebend zur Bewertung des Verhaltens.
Wolfgang Lechner habe den Wolf nach dem Vorfall in seiner Herde zunächst weiter beobachtet, während er sich um das angegriffene Schaf kümmerte. Der Wolf habe seine Schafherde noch eine Weile beobachtet. Doch Lechner rief und klatschte abermals, wie er berichtet, und habe es so letztendlich geschafft, das Tier zu vertreiben.
Nicht dass dem treuen Schäferhund etwas passiert
Mit Blick auf seinen treuen Schäferhund Tiger merkt Lechner an: „Wenn ihm etwas passieren würde, wäre dies für mich eine Katastrophe“. Laut Lechner hätte es den Hund das Leben kosten können, wenn er sich schützend zwischen Schaf und Wolf gestellt hätte.
„Ich habe nach dem Vorfall sofort Kontakt mit der Forstlichen Versuchsanstalt aufgenommen, den Sachverhalt geschildert und meine Fotos zur Dokumentation und Überprüfung eingesandt“, so Lechner. Vonseiten der FVA gibt es bislang keine offizielle Bestätigung, dass es sich bei dem Tier, das Lechners Herde angegriffen hat, wirklich um den gesichteten Wolf handelt. Die FVA hat bislang für den 18. und 19. März nur eine Sichtung auf Stockacher Gemarkung und drei Sichtungen in Öhningen bestätigt.
Inzwischen gab es weitere Sichtungen eines Wolfs in der Schweiz, nahe der deutschen Grenze. Kurt Kirchmann, der im Landkreis Konstanz als Netzwerker für die FVA tätig ist und Wolfsmeldungen untersucht, äußerte in einem früheren Gespräch mit dem SÜDKURIER die Vermutung, dass der gesichtete Wolf ursprünglich aus der Schweiz kommt und hin und wieder Abstecher auf die deutsche Seite der Grenze mache.
Trotzdem werde Lechner, der in zweiter Generation Schäfer ist, nach diesem Erlebnis frühmorgens künftig besonders daran denken, was sein Vater ihm einst sagte: „Das ist das Schönste, wenn am Morgen alles in Ordnung ist“.