Maria Hensler lacht. Maria Hensler lacht fast immer, und wenn sie lacht, dann legen sich viele kleine Fältchen um die munteren Augen der 75-Jährigen. Dabei hatte diese Katholikin aus Gaienhofen im Leben genug schwere Stunden, in denen jeder anderen das Lachen vergangen wäre. Bei ihr ist das anders. Wo andere klagen und ihren Gesprächspartner mit ihrem Lamento aus dem Haus scheuchen, da wirft Frau Hensler ihre Gedanken positiv nach vorne. In ihrer zeitweisen Not schaufelte sie kein Gefühlsgrab, sondern verknüpfte viele Fäden zu einem nützlichen Ganzen. Sie schuf ein Netzwerk.

So helfen sie Ehrenamtlichen im Alltag

Das Netzwerk namens Nachbarschaftshilfe beruht auf einem einfachen Prinzip: Man hilft sich gegenseitig, gewissermaßen über jenen Zaun hinweg, der die Grundstücke trennt und oft das Mitgefühl gleich mit abschneidet. Die eigenen Zäune und die der Nachbarn werden gefühlt höher und massiver. In Henslers Netzwerk „Hilfe von Haus zu Haus“ soll es anders sein: Nachbarn hören hin, wenn es eine Straße weiter Probleme gibt. Wenn zum Beispiel die Großmutter zunehmend dement wird. Oder wenn ein alter Herr seine Beweglichkeit einbüßt und ohne Rollator das Haus nicht mehr verlassen kann.

Die Freiwilligen der Nachbarschaftshilfe werden dann verständigt und treten stundenweise in Aktion. Sie lesen vor, unterhalten sich, begleiten den Senior beim Spazieren, gehen einkaufen, bieten Fahrdienste an. Letzteres ist auf der Höri besonders wichtig, da die Anbindung an Radolfzell noch ausbaufähig ist.

„Wir machen alles außer Pflege“, sagt Maria Hensler. Die Pflege sei die Baustelle anderer Organisationen: „Wir wollen doch niemandem den Arbeitsplatz wegnehmen.“ Zudem ist Pflege hochgradig spezialisiert und kein Fall für das klassische Ehrenamt.

Ihr Mann war Bürgermeister

Das Netzwerk, dessen Fäden sich mittlerweile über das gesamte Südbaden ziehen, fing bescheiden an. Maria Hensler erlebte eine Situation, die den meisten Menschen bekannt sein dürfte, deren Eltern ins hohe Alter kommen: Sie war überfordert und ratlos. In ihrem vielköpfigen Haushalt war es so, dass bei ihrem Mann eine Demenz diagnostiziert wurde. Das war kurz nachdem er in den Ruhestand verabschiedet worden war. Helmut Hensler war ein bekannter Bürger, hatte er doch 24 Jahre lang als Bürgermeister die Geschicke von Gaienhofen gelenkt.

Gleichzeitig musste sie registrieren, dass die eigene Mutter zunehmend einer intensiven Betreuung bedurfte. Nun hatte sie es mit zwei Pflegefällen zu tun. „Kaum waren die Kinder weg und aus dem Haus, da waren mein Mann dran und meine Mutter.“

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Sie gab nicht auf und gründete die Nachbarschaftshilfe. Oder ins Biblische übersetzt: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Die Hilfe sollte immer bezahlbar sein. Auch das ist ein Grundsatz, den Hensler ihrem Verein und vielen Nachgründungen von Anfang an ins Stammbuch schrieb. Der Aufwand sollte überschaubar und im Rahmen des entschädigten Ehrenamts zu bewältigen sein.

„Am Anfang waren es nur Frauen, die mitarbeiteten“, erinnert sich die Gründerin. Allmählich kam der eine oder andere Mann hinzu. Heute ist jeder fünfte Mitarbeiter im Netzwerk ein Mann. Nachbarschaft, so möchte man meinen, wird vor allem von Frauen gepflegt. Und die Betreuung von alten und schwachen Menschen liegt in Frauenhand, wie ein Blick in eine beliebige deutsche Pflegestatistik zeigt.

Echte Nachbarschaft? War früher einmal

Noch etwas kommt hinzu: Maria Hensler hat gespürt, dass das „alte Dorf“ mit seinen vielen Verbindungen und Verpflichtungen nicht mehr existiert. „Die alte Nachbarschaft gibt es nicht mehr“, bedauert sie im Gespräch mit dem SÜDKURIER. Altes Dorf bedeutet, dass man sich kennt und sich hilft, dass man sich Gerät und Werkzeug leiht.

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In Gaienhofen, wo die Henslers ein verwinkeltes Holzhaus für sich und ihre sieben Kinder bauten, ist diese funktionierende Dörflichkeit längst Geschichte. Die Gemeinde auf der Höri leidet an ihrer exquisiten Lage. Zahlreiche wohlhabende Menschen ziehen an den Bodensee, weil es dort so schön ist. Sie kaufen Häuser und Grundstücke, die für die Einheimischen kaum erschwinglich sind.

Dieser Vorgang liegt in der Logik von Marktwirtschaft und Tourismus. Was Frau Hensler aber nicht akzeptiert, ist Folgendes: Diese Neubürger interessieren sich kaum für die Menschen, die in der Parzelle daneben leben. Sie zeigt auf das Grundstück nebenan, das einen feinen Blick auf Untersee und die Schweiz hat. “Die Nachbarn haben damals sofort eine Hecke mit Thuja gepflanzt. Sie wuchs schnell.“ Das Gewächs ist blickdicht, so wollten es die Nebenbewohner.

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Am Anfang gab es noch Gegenwind

Ihre Bewegung wuchs schnell. Dabei gab es auch skeptische Stimmen. Von kirchlicher Seite wurde befürchtet, dass das neue Netzwerk eine Konkurrenz zur Caritas werden könnte. Diesen Einwand haben Hensler und ihre vielen Mitstreiterinnen entkräftet. Den Profis der Pflege wollen und können sie nicht in die Quere kommen, das war nie die Absicht. Ihre Helferinnen arbeiten auf Basis des Ehrenamts, wobei eine Aufwandsentschädigung bezahlt wird. Sie beträgt 11 bis 12 Euro und liegt damit unter dem Mindestlohn, da es sonst kein Ehrenamt mehr wäre.

Maria Hensler im November bei der Übergabe ihres Amtes an die Nachfolgerin Brigitte Jeske.
Maria Hensler im November bei der Übergabe ihres Amtes an die Nachfolgerin Brigitte Jeske. | Bild: Susanne Jörger

Nach über 20 Jahren gibt Maria Hensler die Leitung des Netzwerks Nachbarschaftshilfe nun ab. Ihr folgt eine Frau nach, die in ihrer Gemeinde ebenfalls eine Nachbarschaftshilfe aufgebaut hat: Brigitte Jeske aus Inzigkofen (bei Sigmaringen) hat die Betreuung des Netzwerks mit seinen lokalen Stützpunkten übernommen. Vor einigen Wochen erfolgte die Übergabe.