Es ist ein Sommertag im letzten August. Eine junge Frau mit türkischen Wurzeln geht mit ihrer Mutter im Konstanzer Paradies spazieren. Es soll ein ruhiger Spaziergang werden, die 31-Jährige will ihre kranke Mama mal wieder an die frische Luft bringen. Unweit ihres Elternhauses wohnt auch der Bruder der Mutter mit seiner Familie.
Früher, als die Kinder klein waren, passten die Eltern oft auf die Kinder der jeweils anderen Familie auf. Die junge Frau, die in Konstanz geboren wurde und mittlerweile in der Schweiz wohnt, und ihr gleichaltriger Cousin spielten miteinander, sie verstanden sich gut. Doch das ist schon lange nicht mehr so.
Obwohl die Familien noch immer nah beieinander wohnen, sind sie sich ferner denn je. Die einen halten sich für relativ offen, die anderen für eher traditionell muslimisch. Seit Jahren sprechen sie nicht mehr miteinander – weder Kinder noch Eltern.
Trennung vom Freund als Auslöser
Dennoch lauert der Cousin der jungen Frau nach deren Angaben regelmäßig auf; er behauptet das gleiche von ihr. Weil die Cousine sich dann im vergangenen Jahr von ihrem damaligen Freund trennt, mit dem ihr Verwandter sich angefreundet hat, eskaliert die Situation vollends.
Als die junge Türkin und ihre Mutter an jenem Sommertag am Haus ihres Cousins vorbeikommen, steht er vor der Tür. Er beleidigt seine Cousine als „Schlampe“ und schlägt ihr ins Gesicht – so stark, dass ihr Ohrschmuck mehrere Meter weit wegfliegt. Die junge Frau packt ihren Cousin am Jackenkragen, er tritt ihr auf Nierenhöhe in den Bauch und schreit, dass er sie umbringen werde.

Als die gebürtige Konstanzerin ihre Augen nach Sekunden wieder öffnet, liegt sie auf dem Boden, angelehnt an ein Auto. Die Umrisse der Hausschuhe ihres Onkels, der wenige Meter neben ihr steht und seinen Sohn festhält, kann sie zunächst nur unscharf erkennen.
Ihr Onkel hatte die Szene aus dem Fenster gesehen und war auf die Straße gerannt, um dazwischenzugehen. Sein Sohn würgte da bereits ihre Mutter – seine eigene Tante, bei der er früher so viele Nachmittage verbracht hatte.
Schläger hält sich für modern
Die körperliche Auseinandersetzung war der Höhepunkt eines jahrelangen Familienstreits, mit dem sich nun das Konstanzer Amtsgericht befassen musste. „Meine Familie war immer moderner als die Familie meiner Cousine“, behauptet der Angeklagte vor dem Richter und zeigt auf seine Tattoos: „Die sind ja auch eher untypisch für Türken.“
Doch der Schein trügt: Schließlich hatte der junge Mann es als gerechtfertigt angesehen, seiner Cousine und seiner Tante Gewalt anzutun. Ein Widerspruch, der beinahe nicht ans Licht der Öffentlichkeit gelangt wäre. Denn zunächst wollte die 31-Jährige ihren Cousin nicht anzeigen.
Einen Tag nach der Tat entschied sie sich aber, es doch zu tun. „Zuerst habe ich mich geschämt“, sagt sie kurz vor der Verhandlung, „aber ich will nicht mehr schweigen.“
Geständnis in letzter Minute
Hatte der Angeklagte im Prozess zunächst noch alle Vorwürfe abgestritten, so vollzieht er plötzlich die Kehrtwende. Eine Viertelstunde, bevor die Verhandlung enden soll, bittet sein Anwalt um eine kurze Besprechungspause und verlässt mit dem 31-Jährigen den Gerichtssaal. Als sie wiederkommen, gesteht der Mann.
Bei seiner Cousine, die noch im Raum sitzt, entschuldigt er sich. Als er kurz darauf auch mit seiner Tante spricht, kann er sich die Tränen nicht verkneifen. „Es tut mir leid, ich weiß, dass du viel für mich getan hast“, sagt er. „Es ist traurig, dass wir für eine Entschuldigung hier sitzen müssen“, antwortet die Frau.
Sowohl seiner Cousine als auch ihrer Mutter hat er ein Schmerzensgeld von jeweils 500 Euro gezahlt. „Ich hoffe, wir können diesen Streit endlich beenden, in diesen Zeiten sollte man zusammenhalten“, sagt der junge Mann und bezieht sich dabei auf die gemeinsame Großmutter, die vor kurzem gestorben ist. Doch seine Cousine bleibt ungerührt. „Ich habe die Entschuldigung zur Kenntnis genommen“, antwortet sie nur.
90 statt 110 Tagessätze als Strafe
Statt der drohenden Geldstrafe von 110 Tagessätzen á 25 Euro sprachen sich Täter und Verteidiger für 70 bis 90 Tagessätze aus. Der Richter verhängte gegen den bereits vorbestraften Mann schließlich 90 – weil der Angeklagte gestanden hatte, wurden es keine 110. Doch weder die Gerichtsverhandlung noch das Schmerzensgeld werden die einst vereinte Familie wohl wieder zusammenbringen können.