Der Wind weht von Westen her. Er fegt über die Fahrradbrücke, wo Matti Marsch mit Freunden vor wenigen Minuten zwei Seile gespannt hat – von einem Baum am Nordufer hin zum Stahlgeländer der Brücke, etwa 50 Meter Luftlinie.
Die Slacklines, wie diese breiten Seile aus Kunstfasern auch genannt werden, flattern im Wind. Schon in Kürze wird Marsch auf ihnen einen Drahtseilakt wagen. Ein Trendsport, aber nicht ohne entsprechende Sicherung. „Ich selber trage das“, sagt er und schlüpft in einen Gurt, der später seinen Sturz stoppen soll.
Und Marsch wird stürzen.
Matti Marsch ist 34 Jahre alt, trägt stoppelige Kurzhaarfrisur und Drei-Tage-Bart. 2014 stand er das erste Mal auf einer Slackline, damals im Konstanzer Herosé-Park. Was in Bodennähe begann, macht er mittlerweile in luftigen Höhen: In den Bergen Frankreichs balanciert Marsch über Schluchten hinweg.
„400 Meter geht es dann in die Tiefe“, sagt er. Ein Kampf gegen die eigene Urangst. „Heute aber habe ich das nötige Vertrauen, in mich und das Material.“ Im Ernstfall hängt sein Leben an einem Seil.
Trotz des starken Windes hat Matti Marsch heute nichts zu befürchten. Zwar balanciert er in einer Höhe von rund acht Metern, doch unter seinen Füßen fließt der Seerhein. Ein unkontrollierter Absturz inklusive Materialversagen ist hier im schlimmsten Fall schmerzhaft. „Auch das wäre unangenehm.“
Ein letztes Mal kontrolliert Marsch deshalb die Knoten an seinem Sicherungsgurt. „Das macht man lieber einmal zu viel als zu wenig“, sagt Marsch und lacht. Unter den neugierigen Blicken zahlreicher Passanten klettert er schließlich über das Brückengeländer – und beginnt den Balanceakt.
Den konzentrierten Blick geradeaus, setzt Marsch vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Wie ein Pendel schwingen die Arme von rechts nach links und zurück. Sie fangen Böe um Böe ab und halten das Gleichgewicht. Rund 50 Meter liegen nun vor ihm.
Mit einem Ring ist das Sicherungsseil an der Slackline befestigt. Er folgt Matti Marsch, Schritt für Schritt, wie ein Schutzpatron. Und schon ist es geschehen.
Ein kräftiger Windstoß fährt in das Seil – und bringt Matti Marsch zu Fall. Den Zuschauern stockt der Atem.
Doch das Sicherungssystem greift. Marsch hängt an seinem Seil. Er muss heute nicht baden gehen.
Mit einem kräftigen Zug hievt er sich wieder hinauf auf die Slackline. Das jahrelange Training macht sich bezahlt.
Gemeinsam mit Freunden hat Matti Marsch den Verein Konstanz Slackt gegründet. Er ist der Vorsitzende. Seit vier Jahren sind die Sportler in ihrer Freizeit regelmäßig an der Fahrradbrücke, wo sie von den Konstanzer Behörden geduldet werden. Ähnlich wie die Kletterer an der alten Rheinbrücke.
Den Passanten gefällt das Schauspiel offenbar. Mittlerweile hat sich eine Menschentraube auf der Brücke gebildet. Sie verfolgen, wie Matti Marsch weiter in Richtung Nordufer balanciert...
...um dann überraschend mit einer kurzen Drehung auf dem Seil kehrt zu machen.

Matti Marsch kämpft nun gegen den Wind. Mit bis zu 40 Stundenkilometern bläst der an diesem Tag. Ein Duell, das Marsch nicht gewinnen kann.
Die Kraft in den Beinen lässt nach. Das Gleichgewicht geht verloren. Es folgt der zweite Absturz.
Aber auch danach geht es weiter – bis Matti Marsch wieder das Brückengeländer erreicht.
15 Minuten dauerte der Balanceakt. Die Anstrengung ist ihm anzusehen. Der Schweiß perlt von seiner Stirn. Als Belohnung erwartet ihn der Applaus seiner Zuschauer.