Greta Assmann und Steffen Friedriszik sitzen am Ufer des Seerheins. Die Strahlen der Herbstsonne wärmen ihre Körper. Und das ist dringend nötig: Nur wenige Minuten zuvor sind sie wortwörtlich baden gegangen. Denn Greta Assmann und Steffen Friedriszik klettern in ihrer Freizeit.

Für gewöhnlich tun sie das in der Kletterhalle in Radolfzell oder am Felsen im Donautal – nicht aber in Konstanz. Hier sind die Voraussetzungen für die Kletterszene keine guten. Eigentlich.

„Wie immer ist die Frage, was man aus dem macht, das da ist“, sagt Steffen Friedriszik, 27 Jahre alt, Student an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Gestaltung, kurz: HTWG. Greta Assmann, 30 Jahr alt, Doktorandin an der Universität, nickt zustimmend.

Bild 1: Eine Hängepartie über dem Wasser: Wie Kletterer die alte Rheinbrücke zweckentfremden – und dafür staunende Blicke ernten
Bild: Reinhardt, Lukas

Der Blick der beiden schwenkt nach links in Richtung der Alten Rheinbrücke, die auf einer Länge von rund 130 Metern den Fluss überspannt.

Pfeiler und Träger aus tausenden Tonnen Beton und Stahl machen das Gebilde zur perfekten Steilwand für die Konstanzer Kletterer. Eine Gruppe von zwölf Leuten trifft sich im Sommer deshalb regelmäßig am nördlichen Ufer des Seerheins, um sich unter der Brücke hindurch von Pfeiler zu Pfeiler zu hangeln.

„Ein gutes und gleichzeitig anspruchsvolles Training mit tollem Ausblick – wenn die Sicht passt“, sagt Greta Assmann. Vor einem Jahr meisterte sie das 40 Meter lange Teilstück, immerhin ein Drittel der gesamten Brücke, zum ersten Mal. „Den Rückweg schaffe ich noch nicht ganz“, sagt sie und lacht. Inzwischen sind die Kletterer eine Art Attraktion unter Touristen und Einheimischen. Sie bewegen die Menschen zum Verweilen – und ziehen ihre staunenden Blicke auf sich.

Bild 2: Eine Hängepartie über dem Wasser: Wie Kletterer die alte Rheinbrücke zweckentfremden – und dafür staunende Blicke ernten
Bild: Reinhardt, Lukas

Eine halbe Stunde zuvor. Die beiden Kletterer legen ihre zwar spärliche, aber nicht unwichtige Ausrüstung an: Während Steffen Friedriszik sich Arbeitshandschuhe überstreift, umwickelt Greta Assmann ihre Finger mit weißem Klebeband.

„Der Stahl ist an einigen Stellen rostig“, erklärt sie. „Das kann durchaus schmerzhaft werden.“ Wie schmerzhaft, das wird die 30-Jährige am Ende ihrer Kletterpartie wieder einmal spüren.

„Auf geht‘s!“, ruft Greta Assmann schließlich. Mit Leichtigkeit erklimmt das Zweiergespann die erste Hürde, den Betonpfeiler, der hinauf zu den Stahlträgern der Brücke führt.

Der Aufstieg Video: Lukas Ondreka

Hier heißt es: Ein letztes Mal die Muskeln dehnen. Aber nicht nur das. „Kein Schiff in Sicht“, ruft ein Freund den beiden zu – und gibt damit das Zeichen für den Start. Denn Sicherheit für sich und andere steht bei ihrer durchaus waghalsigen Aktion ganz oben.

Bild 3: Eine Hängepartie über dem Wasser: Wie Kletterer die alte Rheinbrücke zweckentfremden – und dafür staunende Blicke ernten
Bild: Reinhardt, Lukas

Dann geht es los. Steffen Friedriszik greift mit festem Griff zu und schwingt voraus...

Bild 4: Eine Hängepartie über dem Wasser: Wie Kletterer die alte Rheinbrücke zweckentfremden – und dafür staunende Blicke ernten
Bild: Reinhardt, Lukas

...Greta Assmann folgt.

Bild 5: Eine Hängepartie über dem Wasser: Wie Kletterer die alte Rheinbrücke zweckentfremden – und dafür staunende Blicke ernten
Bild: Reinhardt, Lukas

Gemeinsam hangeln sie sich Zug um Zug am Stahlträger entlang. Immer schwerer werden die Arme, immer langsamer die Bewegungen. Doch die anfeuernden Rufe ihrer Freunde geben den nötigen Schub, um schließlich den Brückenpfeiler zu erreichen.

Geschafft.

Die Hängepartie Video: Lukas Reinhardt, Lukas Ondreka

Dort angekommen gilt: Ausruhen und Kraft tanken für den bevorstehenden Rückweg, der die beiden an ihre körperlichen Grenzen bringen wird. Während dieser kurzen Pause fährt ein Schiff der Konstanzer Wasserschutzpolizei vorbei. Ein prüfender Blick, dann geht die Fahrt weiter.

Die Behörden tolerieren das Spektakel unter der Brücke, solange die Kletterer niemanden gefährden. Greta Assmann und Steffen Friedriszik halten deshalb immer wieder sorgfältig Ausschau nach Booten und Schiffen, bevor sie los schwingen. Ist eines in Sicht, warten sie, bis es vorbeigefahren ist. So auch vor dem Rückweg.

Wieder hangeln sie sich am schroffen Stahlträger entlang. Wieder werden die Arme schwerer und schwerer. Im letzten Drittel schließlich helfen auch die Rufe der Freunde nicht mehr: Greta Assmann stürzt ab, landet nach kurzer Flugeinlage im Wasser und schwimmt an das Ufer.

Bild 6: Eine Hängepartie über dem Wasser: Wie Kletterer die alte Rheinbrücke zweckentfremden – und dafür staunende Blicke ernten
Bild: Reinhardt, Lukas

Für Steffen Friedriszik, der es auf die andere Seite geschafft hat, ist die Trainingseinheit noch nicht beendet. Der 27-Jährige klettert, seitdem er fünf Jahre alt ist. Neben der entsprechenden Muskulatur ist die Technik sein Trumpf. „Aus dem Bizeps heraus und mit der entsprechenden Beinarbeit“, erklärt er.

Nach einer kurzen Pause schwingt er sich erneut auf den Brückenpfeiler inmitten des Flusses. Dort angekommen, kann er die Arme zum Jubel nur noch mühsam in die Luft heben.

Bild 7: Eine Hängepartie über dem Wasser: Wie Kletterer die alte Rheinbrücke zweckentfremden – und dafür staunende Blicke ernten
Bild: Reinhardt, Lukas

Auf dem zweiten Rückweg ist dann auch für den Modellathleten Schluss. Ein Griff geht ins Leere. Der Sturz ist unumkehrbar. Doch der Fall ist kurz und die Landung weich, wenn auch nass.

Der Absturz Video: Lukas Reinhardt, Lukas Ondreka

Am Ufer des Seerheins lassen sich die beiden Athleten nun von der Herbstsonne trocknen und wärmen. „Vermutlich das letzte Mal in diesem Jahr“, sagt Greta Assmann und blickt auf ihre Hände.

Die können nach diesem Einsatz eine Pause durchaus gebrauchen, sind teils blutig und offen vom schroffen Stahl der Brücke. „Bei dem Adrenalin, das dort oben in den Körper gepumpt wird, merkt man das nicht“, sagt sie.

Das positive Gefühl, das bleibt, ist stärker. Der Schmerz vergeht. Im nächsten Frühjahr werden Greta Assmann und Steffen Friedriszik deshalb wieder da sein, am Nordufer nahe der Alten Rheinbrücke.

Bild 8: Eine Hängepartie über dem Wasser: Wie Kletterer die alte Rheinbrücke zweckentfremden – und dafür staunende Blicke ernten
Bild: Reinhardt, Lukas