Maria Hartstein fühlt sich wie der Protagonist in Molières Werk „Der eingebildete Kranke“. Nur, dass ihr Leben keine Komödie, sondern bitterer ernst ist. Maria Hartstein trägt eigentlich einen anderen Namen. Den möchte sie aber nicht nennen; aus Angst vor negativen Reaktionen zieht sie es vor, anonym zu bleiben. Sie hatte schon so ziemlich jede schwere Krankheit: Bauchspeicheldrüsenkrebs, Lungenkrebs oder Multiple Sklerose. Sie litt unter chronischem Schwindel oder schlimmen Rückenschmerzen und ging von Arzt zu Arzt – gefunden wurde nie etwas.

Immer wieder die Überzeugung, todkrank zu sein
„Es ist, als würde ein Betonklotz auf meiner Brust liegen“, sagt sie. „Das nimmt mir Lebensqualität.“ Der Ablauf ihrer psychosomatischen Störung ist stets deckungsgleich: Sie verspürt Symptome, geht zum Arzt mit dem Verdacht auf eine schwere Erkrankung – dort jedoch wird nichts festgestellt. „Irgendwann verschwinden dann die Probleme, bis wieder neue auftauchen. Man kann sich nicht vorstellen, wie schwierig diese Situation ist.“ Obwohl sie immer wieder erfahren hat, dass sie gesund ist, kam die Überzeugung zurück, todkrank zu sein. Patienten befürchten Erkrankungen, die ein langes Siechtum und den Tod bedeuten könnten.
Als es nicht mehr ging, begab sie sich in die Obhut der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Hier fühle sie sich sehr gut aufgehoben. „Ich habe gespürt, wie der Druck langsam verschwindet“, berichtet sie von ihren ersten Erfahrungen in dem Haus, das im Singener Klinikum angesiedelt ist.
Der Kontakt mit Mitmenschen mit ähnlicher Geschichte hilft ihr sehr. „Wir bauen uns gegenseitig auf, reden viel miteinander“, erklärt die 51-Jährige. Respekt, um nicht zu sagen Angst hat sie vor der Zeit, wenn sie wieder auf sich alleine gestellt sei, „doch ich muss ja einfach nur die Dinge umsetzen, die mir beigebracht wurden“.
Mit der Angst konfrontieren
Marc Rother betreut Maria Hartstein in der Klinik. „Unser roter Faden ist der Zugang zu den Emotionen der Patienten“, erklärt er. „Der Zusammenhang zwischen dem Körper und den Emotionen.“ Die Patienten sollen versuchen, jene Emotionen wieder zu entdecken, die im Alltag Verschütt gegangen sind. Die Erkenntnis, da ist keine Krankheit, helfe Menschen wie Maria Hartstein nicht. Sie müsse lernen, mit ihren Ängsten umzugehen. Er nennt das Beispiel Flugangst. „Was mache ich, wenn ich darunter leide?“, fragt er. „Ich fliege nicht und reduziere meine Angst durch ein Sicherheitsverhalten. Dabei würde es mehr bringen, wenn ich mich mit der Angst konfrontieren würde.“
Gerlind Brooker ist Oberärztin auf Station S35 der Psychosomatik in Singen. Sie ist Expertin der Disziplin somatoforme Störung oder hypochondrische Störung. „Unsere Patienten haben einen großen Leidensdruck“, berichtet sie. „Sie werden schnell als Simulanten bezeichnet. Daraus können sich auch Depressionen entwickeln.“ Wer eine somatoforme Störung habe, werde schnell stigmatisiert und müsse sich Sätze wie „Du willst doch nur nicht arbeiten“ anhören. „Sozialer Rückzug ist oft die Folge“, erklärt Gerlind Brooker. „Doch diese Patienten müssen unbedingt ernst genommen werden. Viele wären erleichtert, wenn sie beim Arzt tatsächlich eine körperliche Diagnose erhalten würden.“
Die Ursachen für diese Störung können vielfältig sein, wie Gerlind Brooker erzählt: „Es existiert eine genetische Komponente. Eineiige Zwillinge sind zum Beispiel stärker betroffen oder auch Kinder in Adoptivfamilien, deren leibliche Mutter Alkoholprobleme hatte.“ Gewaltsame sexuelle Übergriffe können ebenso ein Auslöser sein wie auch ethnische Hintergründe. „Studien haben gezeigt, dass in den USA verhältnismäßig viele hispanische und afroamerikanische Menschen betroffen sind“, so Gerlind Brooker.
Diagnose erst nach zwei Jahren
Frauen seien grundsätzlich anfälliger als Männer. Die Diagnose somatoforme oder hypochondrische Störung werde nach zwei Jahren gestellt, „wenn gut und gewissenhaft andere Diagnosen ausgeschlossen und die Körpersymptome exakt eingeordnet wurden“, wie Marc Rother erläutert. Das Gedankenmuster könne nur dann verändert werden, „wenn die Patienten die Erfahrungen gemacht haben, dass sie körperlich gesund sind“. Interpretationen aufgrund eigener Erfahrungen spielten eine große Rolle.
Maria Hartstein hat in ihrer rund siebenwöchigen Zeit als stationäre Patientin zahlreiche Kunst-, Circus-, Theater-, Bewegungs-, oder Tanztherapien absolviert. „Auch die Einzel- und Gruppengespräche haben mir sehr geholfen“, berichtet sie. „Toll, dass es diese Station gibt. Mir wurde hier geholfen, ich kann es nur empfehlen.“ Die Zeit nach dem Klinikaufenthalt wird zeigen, ob sie das Erlernte anwenden kann.
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