Yasmin Müller (Name von der Redaktion geändert) hatte beißende Existenzängste. Alleinerziehende Mutter von zwei Kindern, kein Unterhalt vom Vater, ein Job, der nicht viel Geld ins Haus spülte – und stets der Blick in eine bange Zukunft. „Ich bin in die Abhängigkeit hineingeschlittert“, erzählt die 45-Jährige rückblickend. Beruhigungsmittel waren der Einstieg. „Die haben mir Ängste genommen. Ich habe alles wie gedämpft erlebt, funktionierte aber, weil ich funktionieren musste.“
Hausarzt gewechselt, um mehr Tabletten zu erhalten
Schlechtes Gewissen? Fehlanzeige! „Es war ja alles legal“, sagt Yasmin Müller. „Ich wollte jedoch irgendwann mehr und habe mich selbst dosiert.“ Sie wechselte sogar den Hausarzt, als der bisherige nicht mehr bereit war, so viele Tabletten zu verschreiben. Die Kinder waren mittlerweile erwachsen und lebten nicht mehr bei der Mutter – was ein weiterer Grund für sie war, ihrer wachsenden Abhängigkeit klein bei zu geben.

Die fatale Drogenlaufbahn
2016 hatte sie erstmals Kontakt mit Kokain. „Ich fiel in eine Depression, war bettlägerig und bin nur noch zwischen Schlafzimmer und Küche gependelt.“ Immer mehr geriet sie in eine fatale Drogenlaufbahn, die für viele tödlich endet. Valium, Alkohol, Koks. „Irgendwann habe ich alles genommen. Ich wollte nicht mehr denken, nicht mehr fühlen“, sagt sie. „Alle Gefühle waren weg, ich wollte mich umbringen.“
„Ich war überzeugt, dass ich es schaffe“
Bekannte haben sie damals gefunden, sie kam mit einem Krankenwagen in die Klinik. Schnell fanden die Ärzte heraus, dass ihr Körper voll war mit Drogen. Von Singen kam sie erstmals auf Station 52 des Zentrums für Psychiatrie Reichenau. Drogenentzug. „Ich war überzeugt, dass ich das schaffen würde“, erzählt sie. „Aber kaum war ich wieder draußen, fing es von vorne an. Dreimal habe ich den Entzug abgebrochen. Das war wie ein Teufelskreis.“
Psychologe Mario Schweizer kennt diese Situationen. „Am Anfang fühlen sich die Patienten stark. Doch in der Regel geht das nicht lange gut – zumindest nicht beim ersten Mal.“ Das war bei Yasmin Müller nicht anders. „Ich bin hier raus und anstatt direkt nach Hause zu gehen, habe ich mir gleich Stoff besorgt. Ich wusste ja noch genau, wo es das zu kaufen gab. Zwei Tage später hat mich der Krankenwagen wieder hierher gebracht.“

„Der Ansporn muss vom Menschen selbst kommen“
Das ganze wiederholte sich noch einmal – bis dann bei der 45-Jährigen etwas Entscheidendes einsetzte – die Erkenntnis, dass sie sich nicht nur auf andere verlassen darf. „Sie kam im Sommer aus eigenem Antrieb zu uns“, erinnert sich Mario Schweizer. „Wer selbst bereit ist, den Drogenentzug ernsthaft anzugehen, der ist auf dem richtigen Weg. Der Ansporn muss vom Menschen selbst kommen.“
Vielfältiges therapeutisches Angebot auf Station 52
Zu ihren Kindern hat Yasmin Müller mittlerweile wieder ein gutes Verhältnis. Die Familie weiß jedoch nichts von ihrer Drogenvergangenheit. „Sie denken, dass ich wegen meiner Depression behandelt werde.“ Auf Station 52 nimmt sie an unterschiedlichen Therapien teil: Gruppengespräche, Ergotherapie, gemeinsame Spiele, Sport oder Drogenberatung. „Es wird wirklich viel angeboten“, erzählt sie. „Am Wochenende beispielsweise backen wir für alle.“
„Ich habe gezittert und geschwitzt“
Der Beginn des Entzugs ist stets sehr schwierig. „Ich hatte schubweise Rückenschmerzen, habe gezittert und geschwitzt“, blickt Yasmin Müller zurück. „Die klassischen Entzugserscheinungen.“ Zum Zeitpunkt des Interviews mit dem SÜDKURIER kann sie eine positive Information vermelden: „Ich bin seit einigen Wochen clean und habe keine Entzugserscheinungen mehr.“ Der nächste Schritt in die richtige Richtung.
Der Traum vom normalen Leben
Die zweifache Mutter träumt von einem ganz normalen Leben: ein fester Job, ein Partner, Hobbys und Freunde. „Die Struktur im Leben ist das A und O“, erklärt Mario Schweizer. „Menschen benötigen einen Plan, um durch den Tag zu kommen. Suchtgefährdete noch mehr als andere.“
Auf Station 52 klingelt der Wecker um 7.30 Uhr, Termine und Freizeit sind exakt getaktet. „Unsere Patienten sind sich gegenseitig ein guter Ansporn und bilden eine tolle Gruppe“, sagt Mario Schweizer. Spannungen und Konflikte seien jedoch normal. „Ein Teil der Therapie besteht darin, Lösungen für Konflikte und soziale Kompetenz zu erlernen.“ Ein Beispiel ist das gemeinsame abendliche Fernsehschauen im TV-Raum. „Wir besprechen das Programm und gehen dann Kompromisse ein“, erklärt Yasmin Müller.
Sie finden alle Artikel der SÜDKURIER-Serie über das ZfP Reichenau gesammelt auf dieser Seite