Die Antwort ist stets gleich. Egal, wie die Frage lautet. Der ältere Herr im Rollstuhl wiederholt diese eine Zahlenreihe, die in ihrer Gesamtheit sein Geburtsdatum ergibt. Gustav Schmidt (Name geändert) weiß noch genau, wann sein Leben begonnen hat. Das Ende jedoch verschwindet immer mehr hinter einem Schleier. Den richtigen Namen nennen wir nicht, die Familie möchte Anonymität bewahren. Sie fürchten negative Reaktionen.

Früher pflegte er demente Menschen. Heute ist er selbst Patient

Immerhin war Gustav Schmidt ein bekannter und beliebter Mann in Konstanz. Eine imposante Erscheinung. Fußballer beim FC, ein passionierter Reiter, Familienmensch und von Beruf Krankenpfleger – welch‘ tragische Ironie: Dort, wo er heute lebt, nämlich in der Alterspsychologie des ZfP Reichenau, pflegte er früher die Menschen, denen es so ging wie ihm heute.

Er lebt in seiner eigenen Welt

Fast regungslos sitzt er am Tisch. Ab und an lächelt er, seine Augen funkeln in diesen raren Momenten. Dann wird deutlich sichtbar, was für ein attraktiver Mensch er ist. Doch am Gespräch nimmt er nicht teil. Weil er nicht mehr teilnehmen kann. Weil er in seiner eigenen Welt lebt.

Gustav Schmidt (Name geändert) ins einem Rollstuhl vor der Klinik.
Gustav Schmidt (Name geändert) ins einem Rollstuhl vor der Klinik.

„Auf einmal ging es steil bergab“

Seine Frau sitzt neben ihm, die Schwiegertochter ebenfalls. „Es ging auf einmal steil bergab“, sagt die Partnerin, die seit Jahrzehnten an seiner Seite lebt und die ihn heute täglich besucht. „Es fing ganz harmlos an. Aber irgendwann wurde es immer schlimmer.“ Sie hätten die Vergesslichkeit auf das fortgeschrittene Alter geschoben. Lange wollten sie es nicht wahrhaben, dass dahinter eine heimtückische Krankheit steckt.

Demenz. Eine Art Todesurteil

Demenz. Für Betroffene gleichbedeutend mit dem Ende des bisherigen Lebens. Demenz. Eine Art Todesurteil. Weil sich die Krankheit gnadenlos durch das Gehirn frisst. Heilung gibt es nicht. Die Diagnose Demenz ist gleichbedeutend mit einem schleichenden Verlust von Leben. Bis irgendwann gar nichts mehr geht.

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Wörtlich übersetzt heißt der lateinische Begriff Demenz „Weg vom Geist“ oder „ohne Geist“. Damit ist auch schon das wesentliche Merkmal dieser Erkrankung beschrieben: die Verschlechterung geistiger Fähigkeiten bis hin zum Verlust. Zu Beginn sind Kurzzeitgedächtnis und Merkfähigkeit gestört, im weiteren Verlauf verschwinden auch Inhalte des Langzeitgedächtnisses. Betroffene verlieren Stück für Stück die während ihres Lebens erworbenen Fähigkeiten und Fertigkeiten.

Gustav Schmidt (Name geändert) mit seiner Ehefrau und seiner Schwiegertochter.
Gustav Schmidt (Name geändert) mit seiner Ehefrau und seiner Schwiegertochter.

Eine Demenz ist jedoch weitaus mehr als eine Gedächtnisstörung. Sie kann sich auch in einer zunehmenden Beeinträchtigung der Aufmerksamkeit, der Sprache, des Auffassungs- und Denkvermögens sowie der Orientierung zeigen. Somit erschüttert eine Demenzerkrankung das ganze Sein des Menschen – seine Wahrnehmung, sein Verhalten und sein Erleben.

„Das war ein harter Schritt“

Gustav Schmidt ist einmal sogar weggelaufen und wusste nicht, wo er war. Orientierung geht mehr und mehr verloren, wenn die Demenz zugeschlagen hat. „Irgendwann wollte er von alleine nicht mehr Auto fahren, da ihm bewusst war, dass er das nicht mehr kann“, berichtet seine Frau. „Das war ein harter Schritt.“

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Gabriel Richter ist der Chefarzt der Klinik für Alterspsychiatrie im ZfP Reichenau. „Es geht darum, dass die Menschen stets ihre Würde behalten“, sagt er. „Prognosen sind immer schwierig. „Mal stagniert die Krankheit, mal wird es schlimmer.“ Erzählungen von früher können bei Gustav Schmidt Erinnerungen wecken.

Beim Namen Schneider Pi wirkt er plötzlich hellwach

Er war ein guter Fußballer. Als im Gespräch der Name seines einstigen Trainers Pi Schneider fällt, wiederholt er ihn und strahlt übers ganze Gesicht. „Der Schneider Pi„, sagt er mehrmals. „Der Schneider Pi.“ Gabriel Richter erklärt: „Fragen überfordern Patienten schnell. Wenn wir ihnen aber etwas anbieten, in diesem Fall den Namen eines langen Weggefährten, dann kann das etwas auslösen.“ In diesem Fall ein Lächeln, das mehr sagt, als tausend Worte.

Gustav Schmidt hat bei aller Tragik um seine Krankheit Glück. Seine Frau und seine Schwiegertochter begleiten ihn auf dem schweren Weg. Das ist keineswegs selbstverständlich. Es breche Verwandten und Bekannten das Herz, wenn sie irgendwann nicht mehr erkannt würden. „Manche neigen dann dazu, nicht mehr zu Besuch zu kommen, weil sie das emotional nicht mehr aushalten“, erklärt Gabriel Richter.

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