Alle 52 Minuten nimmt sich ein Mensch in Deutschland das Leben. Der Verein Agus (Angehörige um Suizid) veröffentlicht diese Zahl, hinter der sich tragische Schicksale verbergen. Im Sprachgebrauch verwenden viele bis heute den Begriff Selbstmord. Petra Hinderer findet das nicht gut. Die Geschäftsführerin des Hospizvereins in Konstanz erklärt: „Es verweist auf die Vorstellung vom Begehen eines Verbrechens oder einer Sünde.“ Hinderer schlägt einen wertneutralen Begriff vor, etwa Selbsttötung.
Das Schicksal kann jeden treffen
Um das Sprechen über das schwierige Thema zu erleichtern, bietet der Hospizverein in Zusammenarbeit mit dem Landkreis und der Volkshochschule eine Reihe mit Vorträgen, Gesprächskreis, Film und Ausstellung. Sie soll das Thema Suizid aus der Tabu-Zone holen und den Austausch darüber ermöglichen. Der Konstanzer Hans Pannwitz hatte den Anstoß dazu gegeben. Seine Frau hatte sich vor mehr als vier Jahren das Leben genommen und ihn, sowie vier Kinder, zurückgelassen. „So ein Schicksal kann jeden treffen“, sagt der Familienvater. Er berichtet, er habe gute Erfahrungen damit gemacht, offen darüber zu sprechen.
Nur nicht über das Thema Suizid reden – das habe noch gegolten, als sie jung war, sagt Dorothee Jacobs-Krahnen, Leiterin der Volkshochschule Konstanz. Sie berichtet, wie sie drei Mal in ihrem Leben mit dem Thema Suizid konfrontiert wurde: Als Jugendliche mit einer Mutter, die zwei Versuche, aus dem Leben zu scheiden, überlebte. Als Mutter einer Tochter, in deren Klasse sich ein Schüler das Leben nahm und im Bekanntenkreis. Nun steht sie als Leiterin der Konstanzer Vhs einer Bildungsinstitution vor, die sich traditionelle aber auch Tabu-Themen gezielt annehme, wie sie selbst sagt. „Wir versuchen, sachliche, objektive Informationen zu geben.“
Hohe Dunkelziffer bei Suizid
„Suizid kommt in allen sozialen Schichten, bei Menschen jeden Alters und in allen Berufsgruppen vor“, heißt es in der Wanderausstellung, die begleitend zur Veranstaltungsreihe ab Mittwoch, 15. Januar, in der Bodenseehalle des Landratsamts zu sehen sein wird. „Das Thema Selbsttötung trifft alle gesellschaftlichen Bereiche“, sagt der Sozialdezernent des Landkreises, Stefan Basel.
„Suizid hat viele Gründe und Facetten“, sagt Petra Hinderer vom Hospizverein. Sie reichten von der Selbsttötung in Folge einer psychischen Erkrankung bis zur Sterbehilfe. Die Dunkelziffer bei Suizid sei hoch. Manche Menschen etwa beschleunigten durch das Weglassen von Tabletten den Tod.
Suizid ist auch im Alter ein Thema
Bei Jüngeren könne sich der Wunsch, aus dem Leben zu scheiden, auch hinter einem Extremsport oder einem Attentat verstecken. „In Deutschland ist der Suizid ein starkes Thema im Alter“, sagt Petra Hinderer. Dies werfe freilich auch ein Licht auf den Umgang der Gesellschaft mit Krankheit und Alter. „Im Zusammenhang mit einer schweren, unheilbaren Krankheit tauchen in moderner Zeit Fragen zum assistierten Suizid oder den freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit auf“, erklärt Hinderer. Die Veranstaltungsreihe wolle Raum geben, über all dies zu sprechen. Über kulturelle Angebote wie den Film seien auch Menschen zu erreichen, denen das Thema Angst mache.
Hier gibt es Hilfe
Hilfe bietet der Hospizverein heute schon. Dort gibt es eine psychotherapeutisch geleitete Gruppe für Hinterbliebene nach einem Suizid. An diese könnten sich auch Menschen wenden, bei denen die Erfahrung viele Jahre zurückliege. Im Februar will eine Selbsthilfegruppe folgen, in der sich Hinterbliebene untereinander austauschen können. Sie steht unter dem Titel: „Ich bin nicht allein!“
Annegret Liebers, die sich bei Agus und im Hospizverein engagiert, geht davon aus, dass Tabus dazu beitragen, dass in Deutschland im Jahr 10 000 Menschen durch Suizid sterben. Sie berichtet, wie unsicher Hinterbliebene seien, wenn sie nur das große Schweigen erlebten. „Sie fühlen sich hilflos und alleingelassen“, sagt Liebers, „Diese Mauer des Schweigens gilt es zu durchbrechen.“