Sofortige Hilfe bei Suizidgedanken
Die Telefonseelsorge ist anonym und kostenlos unter den Nummern (0800) 11 10 111 und (0800) 11 10 222 rund um die Uhr erreichbar. Der Anruf ist kostenfrei. Er taucht weder auf der Telefonrechnung auf noch im Einzelverbindungsnachweis. Auch per Chat ist das Angebot erreichbar unter online.telefonseelsorge.de Eine Liste mit bundesweiten Hilfsstellen findet sich auf der Internetseite der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention: www.suizidprophylaxe.de
Normalerweise berichtet der SÜDKURIER nicht über Suizide oder Suizidversuche. Vor vier Tagen war dies anders. Am Bahnhof Petershausen ist eine Person zu Tode gekommen. Da dies unter Beobachtung etlicher Augenzeugen geschah, und der Zugverkehr weitgehend eingeschränkt war, hat der SÜDKURIER über die aktuelle Lage vor Ort berichtet. Er ist damit seiner Informationspflicht nachgekommen. Zunächst war unklar, wie die Person am Bahnhof zu Tode kam. Die Polizei bestätigte schließlich, dass ein Suizid so gut wie gesichert sei.
Direkt oder indirekt wurden Menschen, die am Bahnhof Petershausen auf ihren Zug gewartet hatten, am Montag Zeugen des Vorfalls. In unmittelbarer Nähe zum Bahnhof befindet sich die Gemeinschaftsschule Gebhard. Schulleiterin Elke Großkreutz erklärt am Tag danach gegenüber dem SÜDKURIER auf die Frage nach möglichen Zeugen, dass sie von zwei jugendlichen Schülerinnen wisse, die in der Nähe des Bahnsteigs waren. Einzelne Kinder hätten sich draußen vor dem Schulgebäude aufgehalten, hätten aber nichts direkt mitbekommen. „Viele haben davon gehört, aber gesehen haben sie nichts“, sagt Großkreutz.
„Wichtig war das Gefühl für die Schüler: Da sind Menschen, die sich kümmern“
Die Kinder und Jugendlichen seien von den Lehrerkollegen sofort in das Gebäude begleitet worden, weg vom Geschehen draußen, so die Schulleiterin. Drinnen hätten sie und die Kollegen sich mit den Schülern zusammengesetzt, seien mit ihnen in die Klassenzimmer und hätten sie beruhigt. „Alle Kollegen haben unglaublich besonnen reagiert.“ Man habe die Eltern der Schüler informiert, die auch gekommen seien, um die Kinder abzuholen, wenn diese das wollten. „Wichtig war das Gefühl für die Schüler: Da sind Menschen, die sich kümmern“, betont Großkreutz.
Einen Tag später sei sie in alle Klassen gegangen und habe mit den Schülern gesprochen, Fragen beantwortet. Wichtig sei dabei gewesen, ehrlich zu kommunizieren, zuzuhören, so die Schulleiterin weiter. „Nichts herunterspielen, nichts dramatisieren“, sei die Devise von ihr und den Kollegen gewesen. Und vor allem: Einen Rahmen zu schaffen, innerhalb dessen die Kinder und Jugendlichen alles äußern und Gefühle zeigen konnten.
Auch die Schulsozialarbeit sei von Anfang an involviert gewesen, und man habe den Schülern ein Gespräch mit dem schulpsychologischen Dienst angeboten, der am Tag nach dem Vorfall in die Gebhardschule gekommen sei. Zudem seien die Kontakte der Telefonseelsorge verteilt und auch die Eltern darüber informiert worden, dass das Geschehene die Kinder noch weiter beschäftigen könne. „Wenn es sie weiter beschäftigt, können die Schüler auch jederzeit zu mir kommen, und wir vermitteln sie an Hilfsangebote weiter“, betont Großkreutz.
Wie können Augenzeugen das Erlebte verarbeiten? Das sagen Fachleute dazu
Das Schulpersonal habe genau richtig reagiert, sagt Uwe Herwig dem SÜDKURIER. Der medizinische Direktor am Zentrum für Psychiatrie Reichenau (ZfP) erklärt, Kinder erlebten solche Ereignisse oft anders als Erwachsene. Denn, so Herwig: „Erwachsene können den Kontext erfassen, wissen zumindest, was ein Bahnsuizid ist. Dadurch haben sie andere Möglichkeiten, das einzuordnen.“ Für Kinder hingegen sei so ein Ereignis häufig neu, wodurch es traumatisch sein könne. Die Verarbeitung des Erlebten lasse sich bei Kindern aber auch besser steuern, so der Psychiater. Gegenüber Kindern sei es etwa wichtig, Transparenz zu schaffen: „Es ist ganz wichtig, Kindern gegenüber nichts zu verschweigen, den Schülern auch den Raum zu geben für spontane Gefühlsausbrüche.“
Was tun, wenn man selbst Zeuge eines Suizids wird, sei es als Jugendlicher oder Erwachsener? „In solchen Situationen reagieren wir auf persönlicher Ebene meist instinktiv richtig. Beispielsweise wenden sich viele ab.“ Oft sei es nicht ratsam, nochmals hinzuschauen und neue Details zu erfassen, so Herwig. „Die Sinneseindrücke sollten möglichst minimiert werden. Denn sie setzen sich im Kopf fest, und können zu Flashbacks führen.“ Als Flashbacks werden bildhafte Erinnerungen bezeichnet, die spontan oder nach einem Schlüsselreiz, einem sogenannten Trigger, von Neuem durchlebt werden.
Es helfe, sich nach dem Erlebten besonnen mit dem Geschehen auseinanderzusetzen, erklärt Herwig. „Wenn man spürt, dass einen das Ereignis länger belastet, hilft es, aufzuschreiben, zu formulieren oder auch zu malen, was man gesehen, gefühlt hat. Das Geschehen also zu erfassen, sich ein Bild zu machen, und sich der eigenen Gefühle bewusst zu werden.“
Das Erlebte kann Augenzeugen noch lange beschäftigen: Hier finden sie Hilfe
Zeuge eines Suizids zu sein, sei ein sehr einschneidendes Erlebnis, erklärt Herwig: „Es gräbt sich ein ins Gedächtnis, ins Gefühlsleben.“ In der Folge könnten daher auch Schlafstörungen auftreten, sich Ängste entwickeln oder Flashbacks auftreten, bei denen einen das Geschehen wieder deutlich vor Augen tritt – bis hin zu einer posttraumatischen Belastungsstörung. Oft würden diese Folgen erst Tage, Wochen oder gar Monate nach dem Erlebten auftreten. Wenn einen das Trauma sehr stark belastet oder nach einem halben Jahr noch nicht verarbeitet sei, und etwa Flashbacks anhielten, sei spätestens dann der Zeitpunkt gekommen, sich Hilfe zu suchen, betont Herwig.
In Konstanz gebe es dafür verschiedene Anlaufstellen. „Es gehört zur Basisaufgabe eines jeden Psychotherapeuten“, betont der Psychiater. Man könne auch erst einmal seinen Hausarzt aufsuchen, der einen an eine entsprechende Stelle vermitteln könne. Die Kosten für die Behandlung posttraumatischer Belastungsstörungen würden jedenfalls von jeder Krankenkasse übernommen. Und wer nicht zeitnah einen Termin bei einem Psychiater oder einem psychologischen Psychotherapeuten erhalte, könne sich auch an eine Ambulanz des ZfP wenden, deren Adressen sich auf der Internetseite des Zentrums finden: www.zfp-reichenau.de/einrichtungen/ambulanzen